Gravity – die Kunst des Loslassens

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Eigentlich ist der Film „Gravity“ ein typischer US-Streifen mit den üblich verdächtigen Schauspielern: George Nesspresso Clooney und Sandra Speed Bullock. In Anbetracht seiner Gewöhnlichkeit – auch beeindruckende 3D-Szenarien kennen wir schon – entfacht er jedoch eine ungewöhnlich starke Wirkung. Woran liegt das?

Betrachten wir erst einmal all das, was nicht stimmt: Satellitenumlaufbahnen sind in der Regel weit entfernt von Raumstation-Umlaufbahnen. Ein zerstörter Satellit kann eine Raumstation gar nicht gefährden. Dass die Raumstationen alle so kuschelig nah beieinander liegen, quasi gleich hinterm Gartenzaun, so als wäre nicht genug Platz im Weltraum, um gebührenden Abstand voneinander zu nehmen, kam mir schon beim Filmschauen merkwürdig vor und es stimmt auch tatsächlich nicht. Immerhin wurde das Wagnis eingegangen, der Realität des nicht vorhandenen Schalls im Weltall Genüge zu tun. Explosionen hört man nicht, worauf aber im Film vorsorglich hingewiesen wird, dass sich der Starwars-Geballer-gewohnte Betrachter nicht allzu sehr wundert.

Eine Schlüsselszene, um die Faszination des Films zu ergründen, ist sicher die, wo Sandra nur mit einem Seil am Fuß befestigt an der rettenden Raumstation hängt und George, der wiederum an ihr angeseilt ist, loslassen muss, damit wenigstens sie sich retten kann. Dass diese Szene auch jeder Weltraum-Physik widerspricht, ist hier völlig nebensächlich (ein kleiner Ruck am Seil hätte gereicht, denn wir erinnern uns: Wir befinden uns in Schwerelosigkeit!). Wichtig ist, dass die Szene einer grundlegenden Psycho-Logik entspricht. Es geht um Loslassen. Welche passendere Szenerie hätte man für dieses Thema wählen können, als das schwerelose Weltall mit der stützenden Heimat Erde, die sich nur noch als unerreichbare Globus-Hintergrundkulisse zeigt. Als Lebenswelt ist nur noch die Enge des Raumanzugs geblieben: Lost in space!

gravityKennen wir das nicht alle? Wir leben in einer Beziehung, von der wir genau wissen, dass sie uns mehr schadet als uns gut tut (und alle gutmeinenden Freunde haben uns auch schon mehrfach dazu geraten: Verlass sie / ihn!). Wir sind vor dieser Beziehung ohne weiteres gut ohne sie / ihn zurecht gekommen und wissen, dass wir es auch danach können, allein der Glaube daran fehlt dennoch. Ähnliches kann auch auf Arbeitsplätze zutreffen, die man innerlich schon längst gekündigt hat. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass man keine neue Stelle mehr findet. Dennoch halten wir daran fest als sei es der letzte Arbeitsplatz auf der ganzen Welt. Auch an Orten hängen wir zuweilen, als wären wir mit einem unsichtbarem Klebstoff an sie gebunden.

In der oben beschriebenen Filmszene geht es sogar um nichts weniger als um ihr Überleben: Sie lässt los und überlebt. Sie lässt nicht los und beide sterben. Eigentlich eine Situation, über die man an ihrer Stelle nicht lange nachzudenken bräuchte. Sie denkt aber nach, solange dass man als Zuschauer zunehmend nervös wird, weil sich das Seil um ihren Fuß immer mehr löst (Hollywood-Regisseure wissen wie man Spannung erzeugt!). Er macht es ihr moralisch auch noch leicht, indem vor allem er derjenige ist, der gewillt ist loszulassen, um sie zu retten. Oder macht er es ihr dadurch vielleicht sogar noch schwerer, dass er bereit ist sein Leben zu opfern? Ist es nicht leichter, einem „Arschloch“-Partner oder -Chef den Laufpass zu geben?

Zusätzliche Brisanz erhält die Szene noch dadurch, dass wir beim intuitivem Vergleich mit dem Strickmuster anderer Hollywoodfilme längst wissen, dass die beiden sich bereits ineinander verliebt haben. Das stärkt das Mitempfinden des Zuschauers und sein Verständnis dafür, was so schwer daran ist, für diesen Space-Cowboy, der mit seinen ewig gleichen Anekdoten ganz Houston langweilt, ihr Leben zu riskieren. Umso ärgerlicher, dass man sich in diesen Raumanzügen und der unüberbrückbaren Länge des Seils nicht einmal küssen kann.
Der Film – und besonders diese Szene – schafft es, uns ein Bild für die quälende Angst des Loslassens, des hilflosen Verlorenfühlens zu geben. Er lässt uns miterleben, was sich in Worten nicht beschreiben lässt und rational erklären schon gar nicht.

Das Gefühl der Hilflosigkeit wird noch damit unterstrichen, dass Sandra uns als Weltraum-Anfängerin vorgestellt wurde, die bisher nur im Simulator geübt hat und selbst dort alle Spaceshuttles zum Absturz gebracht hat. Manchmal stellt sie sich auch selten dämlich an, wenn sie z.B. den Akkuschrauber loslässt oder: macht man die Tür auf, wenn man sich mit seiner Rettungskapsel auf dem Grund eines Sees befindet, selbst wenn es innen brennt? Beinahe wäre sie noch – schon auf der rettenden Erde angekommen – in letzter Minute ertrunken. In anderen Momenten agiert sie allerdings auch sehr clever, z.B. als sie den Feuerlöscher als Antriebsmotor benutzt. Sie ist also jemand, mit dem man sich als Normalsterblicher, der mal klug, mal dämlich, mal mutig, mal schwach ist, identifizieren kann.

Schließlich wird sie zur Heldin, meistert die brenzlichsten Situationen, gibt am Ende nicht auf, schafft es, trotz (oder gerade wegen!) des Loslassens, wieder auf der Erde anzukommen, sich zu erden. George erweist sich noch als guter Geist, der ihr im Traum erscheint und die rettende Idee bringt: Bremsen ist wie Beschleunigen. Hier könnte man fast auf die Idee kommen, ins philosophische Schwelgen zu verfallen, merkt jedoch schnell, dass es zu nichts, außer Banalem, führt. Sie hat losgelassen, aber im Traum sind sie immer noch verbunden. Loslassen muss also nicht heißen, dass der andere einfach gänzlich verschwindet. Es bleibt immer noch etwas, das sogar hilfreich sein kann, vielleicht – nehmen wir die oben genannten realen Beispiele aus dem Leben – eine Erfahrung, die einem in Zukunft nützlich ist.

Der Film entpuppt sich als Heldengeschichte einer Alltagsheldin für gelungenes Loslassen und weil uns allen das Problem geläufig ist, wie schwer Loslassen ist, wir es aber nicht erklären können, macht der Film uns dieses Gefühl zumindest greifbar, gibt ihm ein Gleichnis. Er stimmt mit seinem Happy-End zudem zuversichtlich, lässt einen das Kino beinahe mit dem Gefühl eines Gestärktseins fürs Leben verlassen. Ja, Loslassen sollte man ruhig mal wagen! Die letzte wichtige Schlüsselszene ist dann auch die, wo Sandra am Ende am Ufer des Sees aufsteht, mit ihren eigenen Füßen wieder auf Mutter Erde steht und mit stolzem Blick auf die Dinge schaut, die da kommen mögen. Die wird sie jetzt ebenso meistern.

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