Die heulende Linie 7

… eine Beobachtung
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Gleich heult sie wieder.

Immer wenn sie „nächster Halt … Übergang zur Linie …“ sagt, hat sie im „Halt“ sowas Bebendes, das wie ein Schluchzen klingt und in “Linie” vernimmt man ein zartes Jammern. Jaja, ich weiß ja, die Stimme wird von einem elektronischen Stimmprogramm erzeugt. Das kann solche Feinheiten wie Betonung und Ausdruck der Stimme nicht. Aber trotzdem tut sie mir jedes Mal ein bisschen leid, wenn sie so „Hahalt“ schluchzt und ich frag mich, was daran so traurig stimmt, in Kürze am Neumarkt, Heumarkt oder an der Drehbrücke zu halten.

Neumarkt: Ein Penner steigt ein, gnomhaft klein, hager und schmuddelig, sein Kinn so über die Oberlippe gezogen, dass da auf keinen Fall Zähne in seinem Mund sein können und er setzt sich ausgerechnet mir gegenüber in meine Vierersitz-Gruppe. Nein, sie gehört natürlich nicht wirklich mir, aber ich habe sie zuerst okkupiert. Ich überlege, ob ich mich woanders hinsetzen soll. Aber wie sieht das aus?

Er riecht weniger unangenehm als ich befürchtet hatte und obwohl die Hose zwischen seinen Beinen in verdächtiger Form durchnässt ist. Kurz überlege ich, wie oft wohl schon er oder seinesgleichen (konnte man das einfach so sagen? seinesgleichen?) genau dort Platz genommen hatte, wo ich jetzt saß und zwar ohne dass zwischenzeitlich irgendwer den Sitz mit Desinfektionsmitteln gereinigt hatte. Es gibt Dinge, über die sollte man nicht nachdenken.

Wenigstens zog er es vor, ein Nickerchen zu halten, anstatt das Gespräch mit mir zu suchen.

Vorgestern hatte mich eine Frau mittleren Alters, die sich neben mich setzte, in ein Gespräch verwickelt. Ja, schon wieder sei das Ticket teurer geworden, hatte sie das Gespräch angefangen und weil ich meinte, was einigermaßen Kluges zum Thema beitragen zu können, entgegnete ich: „Seit ich hier wohne, haben die schon um über 100% erhöht und zwar ohne die Euroumrechnung“. Überhaupt sei alles teurer geworden, aber mehr Geld, das habe man nicht als früher und ihr Mann dem hätten sie 2009 gekündigt und der habe nichts mehr Neues gefunden mit gleicher Bezahlung.

5 Stationen später wusste ich, wie ihre zwei Töchter hießen, wie schwer sich die eine in der Schule tat, während die andere schon immer viel ehrgeiziger war und noch weitere Details aus ihrer Lebensgeschichte, die ich längst wieder vergessen habe, so wie ich auch die Töchter und den Mann sehr bald wieder vergessen werde. Ehrlich gesagt hatte aber auch ich ihr eine ganze Menge von mir erzählt und ich fragte mich, warum man sowas tat: Fremden Menschen in der Bahn Intimes aus der Lebensgeschichte anzuvertrauen, das die nicht einmal interessierte und so schnell wieder vergessen war …

Schlief er, oder tat er nur so? Schnarchen tat er jedenfalls nicht. Schräg gegenüber telefonierte einer auf Russisch. Ein Wort habe ich verstanden. Ponjemei oder so ähnlich, was – glaub ich – „verstehen“ heisst. Er klang sehr aufgeregt. Irgendwelche Probleme schien es zu klären zu geben. Vermutlich konnte er das Geld nicht bezahlen, das er der Russenmafia schuldete. Ganz wahrscheinlich konnte er das nicht, denn wenn man eine Tüte von Peek & Cloppenburg auf dem Schoß liegen hat, so wie er, dann hatte man teurer eingekauft, als er nach einem guten Einkommen aussah.

Was soll man sonst tun in der Bahn auf einer Strecke, die man so oft fährt, wenn nicht Mitfahrende beobachten? Die Schaufenster, an denen die Bahn vorbei fährt, wechseln nicht oft genug ihre Auslage und manchmal sind die Fenster halb mit Werbung verklebt.

„Nächster Hahalt, Drehbrücke“ schluchzt sie wieder.

Auf dem Bahnsteig am Rudolfplatz, wenn die Linie 12 sich ankündigt, klingt das ganz anders: „Nächster Zug Linie 12, über Ebertplatz, Weidenpesch und Longerich nach Niehl“ und das haucht die ebenfalls weibliche Stimme gleichfalls so lieblich wie euphorisch, als wären Ebertplatz und Weidenpesch die direkten Vororte des Paradieses und Niehl das Paradies selbst. Nichts dergleichen haben diese Stationen, wenn man sie kennt und sie sind weit weniger eindrucksvoll, als die Altstadt und die Überfahrt über den Rhein der Linie 7. Und die Endstation, Zündorf, ist sogar ein nahezu malerisches Rheinufer-Örtchen.

„Nächster Hahalt: Raiffeisenstraße“. Hier muss ich aussteigen.

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