Der Geistesblitz und wie er in die Welt kam: Episode 4

Der große Aha-Moment

Dieser Beitrag ist der 5. Teil einer Serie zu unserer Studie zum kreativen Denken.
Zum Prolog geht es hier.
Zur Episode 1, “Visual Thinking”: hier.
Zur Episode 2, “Kreative Haltung”: hier
Zur Episode 3, “Die kreative Verfassung”: hier
Lesezeit: 8 Minuten

 „Keine Ahnung, wie ich zur Lösung gekommen bin, ein Moment der Erscheinung, aus dem Nichts geschaffen.“
„Ideen sind unberechenbar. Sie kommen, wann sie es für richtig halten.“
„Ich hatte plötzlich ein Bild vor Augen.“
„Das ist wie mit den magischen 3D Bildern. Es ist erst ein flächiges Muster. Man muss irgendwie neben das Bild schauen, nicht zu sehr drauf konzentrieren und ganz plötzlich erkennt man eine dreidimensionale Figur.“
 „Eine Idee, die klappt, ist eine Erkenntnis. Es passt, man hat das fehlende Puzzle-Teil eingefügt.“
„Wenn man eine Lösung gefunden hat, ist es ein euphorisches Gefühl, Befriedigung, ein Glücksmoment. Ja Mensch, das ist es!“
„Der Moment der Idee war tief berührend, Euphorie, Stolz.

Ja, whow, das ist es, die Lösung aller Lösungen. Das ist genial! Das hat die Welt noch nicht gesehen! Abgesehen von der großen Enttäuschung, die mich einige Internet-Recherche-Stunden später traf: Da hatte schon einmal jemand anderes dieselbe Idee gehabt…

Der göttliche Moment

4_1Aber davon wollen wir noch gar nicht sprechen, denn es geht um den einen – meist plötzlichen – Moment, in dem die Idee in die Welt kommt, der Moment mit dem erhabenen, euphorischen Glücksgefühl, Gott für einen kurzen Augenblick über die Schulter geschaut zu haben. Einen kleinen bitteren Beigeschmack hat aber auch schon dieser Moment. War das überhaupt eine Idee, die ich mir ausgedacht habe, eine Eigenleistung? Oder hat mich nur eine – wie auch immer physikalisch übermittelte – Botschaft getroffen, die irgendwie in der Luft lag und auf die ich zufällig gestoßen bin, oder die der imaginäre Absender sogar für mich als Adressaten vorgesehen hatte? Ich kann mich nämlich gar nicht mehr erinnern, wie die Idee zustande gekommen ist, wie ich sie – Schritt für Schritt – selbst entwickelt habe … plötzlich war sie einfach da.

Mythen, auch wenn sie – wie ihr Name schon andeutet – nicht der Wirklichkeit entsprechen, haben meist einen wahren Kern. So auch der berüchtigte Geniemythos. Wenn eine Idee plötzlich in Erscheinung tritt – scheinbar aus dem Nichts – fühlt sich das tatsächlich so an, als wäre sie einem durch ein fremdes, höheres Wesen geradewegs in den Kopf gebeamt worden. Man selber fühlt sich wie ein bloßer Empfänger, der sich die Idee nicht selbst – zumindest nicht nachvollziehbar selbst – erarbeitet hat.

Das Unbewusste löst den Geni4_2emythos ab

Dank der Erfindung des Unbewussten, kam der Geniemythos in neuerer Zeit aus der Mode. So gibt es viele Kreativ-Tipps in der Art, dass Ideen quasi im Schlaf entstünden. Man müsse nur dem Unbewussten die Arbeit der Verknüpfung von Assoziationen überlassen. So soll es auch schon vorgekommen sein und es soll hier gar nicht ausgeschlossen werden. Entgegen dieser Annahme erging es jedoch einigen Kreativen aus unserer Studie so, dass sie einfach nicht schlafen konnten, bevor sie eine Lösung gefunden hatten, sich die Nächte um die Ohren schlugen und so gar nicht dem Unbewussten die Arbeit der Ideenfindung überlassen mochten. Irgendwie scheint sowohl das eine als auch das andere zum Ziel zu führen: Der Schlaf oder die tagträumerische Ablenkung begünstigt die Entstehung von Ideen ebenso wie die hochkonzentrierte Fokussierung auf die kreative Aufgabe, einhergehend mit Schlaflosigkeit.

Ganz ehrlich: Niemand der befragten Kreativen aus unserer Studie konnte uns aus seinem eigenem Erleben verraten, wo denn die Ideen nun her kommen, was es auf sich hat mit diesem plötzlichen Aha-Effekt. Vielen war es auch egal, andere hatten dazu mal was gelesen. Aus den Beschreibungen, wie ein solcher Geistesblitz in die Welt kommt, wie sich das anfühlt – verbunden mit den drei Grundqualitäten des kreativen Denkens (siehe die Episoden 1- 3 dieser Artikelserie) und Forschungsergebnissen aus anderen wissenschaftlichen Studien, ließ sich jedoch eine plausible Hypothese ableiten:

Plötzliches Erkennen

Die meisten Menschen kennen solcherlei Erlebnisse aus ihrem Alltag: Angefangen mit dem lustigen Spiel, Tierfiguren in Wolkenformationen zu erkennen – oder Raufasertapeten können auch sehr spannend sein – bis hin zu gruseligen Momenten des nachts beim Klogang, wo man kurz einen Fremden in der hinteren Ecke des Zimmers zu erblicken glaubt, der Atem stockt, bis man erkennt, dass es doch nur die Lampe ist, die in der diffusen Zusammenschau mit dem Mantel, der über dem Stuhl hängt, wie ein Mann mit Hut erscheint.

Wenn man sich an solche Momente erinnert, stellt man fest, dass weder die Tiere in den Wolken langsam entstehen, noch aus dem Mann mit Hut allmählich die Lampe mit Mantel wird, sondern das, was man zu erkennen glaubt, ganz plötzlich in ein anderes Erkennen kippt. Wer sich nicht an solche Erlebnisse erinnern kann, dem seien an dieser Stelle die Tachistoskop-Experimente zur Aktualgenese (Sander, Volkelt) empfohlen. Den Experimentteilnehmern wurden Bruchteile von Sekunden lang Bilder gezeigt, die sie so schnell nicht erkennen konnten. Die Darbietungs-Zeiten wurden dann allmählich verlängert. Das Erkennen geschah jedoch ganz und gar nicht allmählich, sondern stellte sich plötzlich – zusammen mit einem kleinen Glücksgefühl – ein.

Ähnlich fühlt es sich auch an, wenn man stundenlang über einer schwierigen Mathematik-Aufgabe grübelt und plötzlich die Lösungsstruktur vor Augen hat. In diesem Fall ist man sich jedoch in der Regel bewusst, dass man nichts Neues erfunden hat, was die Euphorie etwas abdämpft. Dass die Wahrnehmung nicht nur diffuse Reize aufnimmt, sondern das Wahrgenommene spontan als eine erkennbare Figur interpretiert, kann sogar überlebens-notwendig sein: Ob es sich um einen harmlosen Busch oder einen gefährlichen Löwen handelt, muss schnell entschieden werden. Ein Gebilde nicht sofort einordnen zu können, löst daher auch meist ein Gefühl von Unbehagen, Orientierungslosigkeit bis hin zur Angst aus.

4_4Der Aha-Effekt als Wahrnehmungs-Mechanismus

Der Aha-Effekt ist weder mysteriös, noch die Folge einer Art genialen, göttlichen Empfängnis, sondern er lässt sich schlicht mit bekannten Wahrnehmungs-„Mechanismen“ erklären, die sogar recht gut erforscht sind: die Mustererkennung der Wahrnehmung.

Die grundlegendste Eigenart menschlicher Wahrnehmung ist unser Sehen in Gestalten. Wir nehmen nicht einzelne Sinneseindrücke wahr und flicken daraus ein Gesamtbild zusammen, sondern wir begreifen unmittelbar zusammenhängende Gebilde: Formen, Farben, Gegenstände, Menschen, Gesichter. Wir sehen auf Anhieb das für uns Wesentliche. Das erkennt man daran, wie die Teile räumlich zueinander in Beziehung stehen, also an der inneren Struktur der Dinge. (z.B. ein Auto ist eine Art Kasten mit vier Kreisen unten: die Räder). Man ekennt anhand des Strukturgerüstes des Gebildes ein Auto oder einen Stuhl.

Figuren in Strukturen auflösen

Ein Stuhl ist in seiner Struktur so geartet, dass er eine Fläche zum Sitzen auf menschlicher Sitzhöhe hat, meist 4 Beine hat und manchmal eine Lehne. Bei Stühlen, die ein extrem ungewöhnliches Design haben, kann man auch mal Schwierigkeiten haben, einen Stuhl zu erkennen. Allerdings kennt man heutzutage schon so viele ungewöhnliche Stuhldesigns, dass man schnell bereit ist, etwas als Stuhl zu erkennen, wenn es z.B. vor einem Tisch steht oder man den Eindruck hat, das Gebilde könnte sich zum Sitzen eignen. Es kommt also auch drauf an, in welchem Umfeld ein Ding steht und auch darauf, was man sich vorstellt, was man mit dem Ding anfangen kann.

Für die kreative Ideenentwicklung ist es jedoch eher von Nachteil, wenn man die Gebilde direkt in eine Schublade steckt, z.B. in die Schublade: Stühle oder Autos. Beim Eintauchen und im Modus des sinnlich-gestalthaften Denkens lösen sich die definierten Schubladen für die Figuren (Stuhl oder Auto) in gewisser Weise auf und die Strukturen kommen wieder in den Vordergrund. Hat man einen Stuhl mit vier Beinen, dann kann diese Struktur –  vier Beine, Sitzfläche, eine Art Hals – auch ebenso die eines Pferdes sein. So kommen Kinder oft auf die Idee, einen Stuhl als Pferd zu “miss”brauchen. Stuhl und Pferd sind strukturähnlich. Um Pferd zu sein, kann aber auch ein Stock reichen, der lang und dick genug ist.Stuhl_Pferd

Ideen entstehen automatisch

Das Denken wird beweglicher, denn der Assoziationsraum erweitert sich. Befand sich der Stuhl als ein bekannter Gegenstand (eine Figur) im Assoziationsraum Möbel, Sitzgelegenheiten oder „mein letzter Besuch bei IKEA“, ist die Struktur (aufgelöste Figur) so undefiniert, dass sich jetzt auch der Assoziationsraum für Pferde (oder anderes) eröffnet. Man schöpft nun mindestens aus zwei Assoziationsräumen. In dem Moment, in dem man ein Pferd im Stuhl erkennt, hat wieder der Mechanismus der Mustererkennung eingesetzt.

Die Ideen (hier die neue Figur des Pferdes) entstehen also automatisch (und deshalb so plötzlich), weil es sich bei der Mustererkennung um einen quasi automatischen Mechanismus der Wahrnehmung handelt. – Dass dieser Aha-Moment auch ein kleiner Glücksmoment bzw. Gefühl der Erleichterung ist, lässt sich damit erklären, dass dann, wenn wieder eine Idee (also eine neue Figur) entstanden ist, das unbehagliche Gefühl der Orientierungslosigkeit sofort verschwindet – . Für das kreative Denken ist also gar nicht das Entstehen der Idee grundlegend, sondern das Schaffen eines aufgelösten Flow-Zustandes, in dem die Ideen automatisch „einfallen“ können. Das ist im Grunde wie in der Chaostheorie: Ordnung entsteht von selbst. Um die Ordnung aufzulösen, damit eine neue Ordnung entstehen kann, braucht es Energie (leider trifft die Chaostheorie nicht auf verräumte Wohnungen zu).

‘Unbewusst’ ist kein differenzierendes Kriterium für den Aha-Effekt

4_6Entsteht eine Idee scheinbar wie von selbst, hat sich die Figur unbewusst / ungewollt in eine Struktur aufgelöst. Vorstellungen aus den erweiterten Assoziationsräumen vermischen sich oder kreuzen sich quer oder verbinden sich miteinander – auch das geschieht unbewusst. Interessant waren Fälle aus der Studie, bei denen der Kreative sich zunächst nicht daran erinnern konnte, wie die Idee zustande gekommen war und selbst davon überzeugt war, sie sei unbewusst entstanden. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erinnerte er sich aber dann doch an ein Ereignis, das die Idee ausgelöst hatte. Man kann hier vermuten, dass diffuse Eindrücke oder auch vage Vorstellungsbilder so flüchtig und instabil sind, dass sie von der ‚guten Gestalt’ der neuen Figur überlagert werden. Der Entstehungsprozess der Idee aus dem Diffusen ist dann nicht unbewusst, man vergisst ihn nur direkt, sobald sich die entschiedene, klare Figur, die Idee einstellt.

Man kann den kreativen Prozess auch ganz bewusst durchführen, bzw. den Aha-Effekt provozieren. Man hilft mit Verfremdung und anderen Veränderungs-Operationen beim Erweitern und Vermischen der Assoziationsräume nach. Man experimentiert spielerisch mit der Struktur. Hier können dann auch Kreativtechniken helfen, die Strukturen umzugestalten: Man dreht etwas auf den Kopf (z.B. Kopfstandtechnik: Um einen Stuhl zu einem Pferd werden zu lassen, muss man sich umgekehrt auf die Sitzfläche setzen!), nimmt es auseinander (z.B. morphologische Tabelle), kombiniert es neu (z.B. Begriffskombinatorik), ordnet es neu an (z.B. Mindmapping), betrachtet es aus einer anderen Perspektive (z.B. Walt Disney-Methode), etc.

Was Kreativtechniken jedoch nicht leisten: Sie sind keine Zauberformeln, die auf Knopfdruck Menschen in eine kreative Haltung versetzen und das kreative Eintauchen und Verschmelzen erzeugen. Möchte man kreatives Denken fördern, muss man also an den drei Grundqualitäten des kreativen Denkens ansetzen: sinnlich-gestalthaftes Denken, Drängen des Anders-Möglichen und Changieren zwischen Eintauchen, Verschmelzen und Distanzieren. Sie sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass man mit den Werkzeugen, den Kreativtechniken, erfolgreich arbeiten kann und nicht umgekehrt.

Entstehung des Aha-Effektes zusammengefasst:

  1. Das sinnlich-gestalthafte Denken lenkt den Blick auf Strukturen.
  2. Beim Eintauchen & Verschmelzen lösen sich die bekannten Figuren (festgefügte Sichtweisen) zunächst auf. Der Blick wird auf die Strukturen fokussiert.
  3. Zugleich drängt es den Kreativen zum Sehen des Anders-Möglichen. Er experimentiert mit der Struktur, um etwas anderes darin erkennen zu können.
  4. Das Erkennen der (neuen) Figur(en) aus den Strukturen geschieht in der Regel ganz plötzlich / ruckartig.
  5. Das plötzliche Erkennen neuer Figuren (dabei kann es sich auch um neue Bedeutungen handeln) läuft dann – wie ‚von selbst‘ ab (Wahrnehmungs-„Mechanismus“) – wenn die Grundbedingungen (Modus, Haltung und Verfassung) erfüllt sind
  6. Die Erkenntnis geht mit einem Glücksgefühl einher, weil sie neue Orientierung schafft.

Wissenschaft hat oft den Nachteil, dass sie – wie hier – aus scheinbar von Gott inspirierten genialen Geschehnissen spröde Wahrnehmungs-„Mechanismen“ macht. Das ändert aber nichts daran, dass der Aha-Effekt ein Moment des Glücks ist, ein großartig erhabenes Gefühl. Kreatives Schaffen – so die Aussagen der befragten Kreativen der Studie – scheint auch dauerhaft ein als erfüllt erlebtes Leben zu begünstigen, abgesehen von den Auswirkungen, die gute Ideen für ein besseres Leben haben. Und was es auch immer ist, entscheidend ist, wie man es erlebt.

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Nicht jeder kreative Prozess läuft gleich ab. Es lassen sich mind. 4 ‘Typen‘ kreativer Prozesse unterscheiden. Darum geht es in Episode 5.

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