Der Geistesblitz und wie er in die Welt kam: Episode 5
So oder so, der kreative Prozess
Dieser Beitrag ist der 6. Teil einer Serie zu unserer Studie zum kreativen Denken.
Zum Prolog geht es hier.
Zur Episode 1, “Visual Thinking”: hier.
Zur Episode 2, “Kreative Haltung”: hier
Zur Episode 3, “Die kreative Verfassung”: hier
Zur Episode 4, “Der große Aha-Moment”: hier
Lesezeit: 6 Minuten
Beim Aufbau eines IKEA-Schranks kommt man ohne diese Schritt für Schritt-Anleitung nicht weit, schon mit ihr ist es mitunter knifflig (andererseits auch erstaunlich, wie man es doch hin bekommt, allein mit Bildchen und ohne Erklärtext). Ähnliche Schritt für Schritt-Anleitungen für die richtige Vorgehensweise beim Entwickeln von Ideen gibt es auch für kreatives Arbeiten. Das bekannteste Phasenmodell für den kreativen Prozess ist vermutlich das von Graham Wallas: 1. Vorbereitung, 2. Inkubation, 3. Illumination, 4. Verifikation und Umsetzung, auf das sich viele Anleitungen berufen. Die Existenz solcher Anleitungen – wenn auch gut gemeint – verleitet jedoch allzu schnell dazu, Ideenentwicklung als ähnlich zum Aufbau eines IKEA-Schranks zu betrachten. Die Enttäuschung, wenn sich dann – trotz aller Schrauben an den richtigen Stellen – die geniale Idee nicht einstellen möchte, ist vorprogrammiert (wenigstens eins, worauf man sich verlassen kann!).
Analysiert man die kreativen Prozesse, die professionell arbeitende Kreative tatsächlich beim Ideenentwickeln durchlaufen, findet man – ärgerlicher Weise für alle Freunde von Schritt für Schritt Anleitungen – eine bunte Vielfalt an Vorgehensweisen: Bei den einen fängt es mit dem Aha-Effekt an, eine Idee ist plötzlich da wie aus dem Nichts. Bei anderen fehlt ein nennenswerter Aha-Effekt gänzlich. Die einen verlassen sich auf Versuch und Irrtum, die anderen gehen systematisch vor, wobei sie ihr System mehr oder minder an die jeweilige kreative Aufgabe flexibel anpassen. Wider Erwarten lässt sich auch kein grundlegender Unterschied zwischen technischen oder mehr künstlerischen Bereichen feststellen. So kann der Prozess eines Komponisten mehr Ähnlichkeiten mit dem eines Ingenieurs aufweisen, als mit dem eines anderen Komponisten. Manche arbeiten – teils in tiefer Überzeugung – mit bekannten Kreativtechniken, z.B. TRIZ oder Mindmapping. Andere scheinen von Kreativtechniken noch nie etwas gehört zu haben und sich auch nicht dafür zu interessieren.
Da ist es auch nicht weiter überraschend, dass der Innovationsprozess zuweilen als Reise beschrieben wird, die sich streckenweise auf ungeplanten und unplanbaren Pfaden bewegt (Ergebnis einer Langzeitbeobachtung von 10 Innovationsteams, Van de Ven, 1996).
Prototypisch lassen sich dennoch 4 Arten des kreativen Prozesses unterscheiden, die jedoch selten in Reinform auftreten. Auch kommt es oft vor, dass mehrere Entstehungsarten in einem Entwicklungsprozess vorhanden sind, sodass sie sich leider wenig als Grundlage für Schritt für Schritt Anleitungen eignen:
- Improvisation
- Inspiration
- Schrittweise Entwicklung
- Provozierter Geistesblitz
Hier handelt es sich eigentlich noch nicht um einen typischen Prozess von professionellen Kreativen. Dennoch kommt die Improvisation auch hier häufig vor. Improvisation kennt wohl jeder aus seinem Alltag. Auch das Leben an sich ist dummer Weise selten planbar, denn es kommt ja bekanntlich erstens immer anders und zweitens als man denkt. Eine plötzliche Problemlage erfordert eine schnelle Lösung (siehe auch das Beispiel mit dem Hammer aus Episode 1), und wir wären vermutlich keine Menschen, wenn wir nicht schnell nach einer Lösung suchen würden und sie meistens auch finden. Wir wären nicht einmal Primaten, denn auch diese sind zu gewitzten Problemlösungen fähig, wenn’s um die Banane geht (s. die Primaten-Experimente von Wolfgang Köhler), sondern vielleicht Hühner, die sich diesbezüglich eher dösig anstellen. Hier zeigt sich das sinnlich-gestalthafte Denken oft besonders deutlich (zumal Primaten nicht verbal denken können). Man schaut sich in so einer Notsituation spontan um, ob es irgendetwas gibt, das ähnliche Eigenschaften hat wie z.B. ein Hammer. Zum groß drüber philosophieren ist auch oft gar keine Zeit. In der Regel sind Improvisationen jedoch nicht unbedingt die genialsten aller Ideen. Es wird dabei selten etwas Besseres erfunden, kann aber durchaus vorkommen.
Über das passende wording zu dieser Art des Prozesses lässt sich streiten. Gemeint sind damit die Ideen, die scheinbar aus dem Nichts entstehen. Es ist jedoch anzunehmen, dass sie das Ergebnis von Erinnerungsbildern (oft weit aus der Vergangenheit) und Vorstellungsbildern sind, die sich (siehe Episode 4: Aha-Effekt) unwillkürlich zu einer neuen Gestalt umgeformt haben, oft ausgelöst durch etwas, das man gerade wahrgenommen hat. Bei regelmäßig arbeitenden Kreativen sorgen oft die grundsätzlichen Interessen für bestimmte (Lebens)-Themen oder Fachbereiche (der “Fachblick”) für eine „gefärbte“ Aufmerksamkeit. Alle Eindrücke werden ständig auf das Thema der Leidenschaft bezogen, sodass man z.B. als Komponist in zufälligen Geräuschen die Grundlage einer neuen Musikkomposition entdeckt, wo andere eben nur zufällig Geräusche hören. Es nutzt also wenig – um wieder auf die Anleitung zum Kreativsein zurück zu kommen – sich an Orte zu begeben, die gemeinhin als „inspirierend“ beschrieben werden, denn das Geheimnis der Inspiration liegt nicht am Ort, sondern am Interesse und am leidenschaftlichen Drängen des Anders-Möglichen (siehe Episode 2). So findet der kreative Informatiker am selben Ort eine Idee für eine Programmcode-Lösung, an dem der Künstler ein interessantes Motiv für ein Gemälde entdeckt.
Bei Inspirations-Ideen handelt es sich meist um eine diffuse Grundidee, die der Weiterentwicklung bedarf. Die Arbeit fängt hier erst an. Beim Entwicklungsprozess kann es dann vorkommen, dass aus der Ursprungsidee eine ganz andere Idee entsteht. Wobei wir hier schon bei der dritten Art angekommen sind.
Wenn man zuweilen liest, dass z.B. die Entwicklung einer neuen Technik mehrere Jahre gebraucht hat oder bedenkt, dass sich ein Roman nicht im Bruchteil einer Sekunden eines Geistesblitzes auf die zuvor leeren Buchseiten ausbreitet, dann bekommt man eine Ahnung davon, dass nicht alle Ideen einfach so über Nacht entstehen. Die schrittweise Entwicklung kommt bei Malern, Komponisten und Autoren oft vor. Sie kann aber auch für die wissenschaftliche Grundlagenforschung typisch sein, wo es über einen langfristigen Zeitraum keine Durchbruch-Ideen gibt, sondern eine permanente schrittweise Weiterentwicklung. Es ähnelt dem Prozess der Ausarbeitung, eine Art „Editieren“. Hier bleiben die Glücksmomente des Aha-Effektes oft über lange Strecken aus, kommen aber auch immer wieder vor und bringen dann mitunter die „geniale“ Wendung. Diese Wendepunkte machen aber allein nicht die Idee aus. Die langen Durststrecken, in denen man ausprobiert, recherchiert und kleine Veränderungen vornimmt, sind mindestens ebenso wichtig für das Gelingen.
Hierbei handelt es sich am ehesten um die Art von Ideenentwicklung, wie sie z.B. in zielgerichteten Ideenworkshops angewandt wird. Sie ist aber auch meist dort der Fall, wo man zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einer bestimmten Aufgabenstellung eine oder mehrere Ideen abliefern muss, weil man z.B. das Geld braucht. In der Werbeagentur kann man nicht warten, bis einem zufällig eine Idee über den Weg läuft. Man versucht hier – oft unter Einsatz der anderen Arten, vor allem Inspiration und schrittweise Entwicklung – einen Aha-Effekt gezielt zu provozieren (Die Notlage für die Improvisation ergibt sich bereits aus der Deadline). Meist entstehen mehrere Ideen, die dann ausgewählt werden, um die Besten weiter zu entwickeln. Der erfahrene Kreative hat seine Methoden, um den noch nicht vorhandenen Ideen auf die Spur zu helfen. Insofern ist Ideenentwicklung durchaus eine Frage der Übung, zumindest wenn man grundsätzlich die Voraussetzungen zum kreativen Denken erfüllt: sinnlich-gestalthaftes Denken, Drängen des Anders-Möglichen, Eintauchen / Verschmelzen und Distanzieren / Bewerten. Hier können Kreativtechniken hilfreich sein. Ihre Anwendung reicht aber nicht aus. Interessanter Weise handeln die beliebtesten Geschichten, die man sich zur Entstehung genialer Erfindungen erzählt (z.B. die Teflonpfanne, das Penicilline oder der Klettverschluss), gerade nicht vom provozierten Geistesblitz, sondern meistens von der Inspiration. Das kann aber auch daran liegen, dass letztere einfach die spannenderen, weil überraschenden Geschichten sind.
Aus den vier Prozessarten lässt sich zwar keine Schritt für Schritt-Anleitung ableiten, denn es handelt sich nicht um genau dieselben Schritte, und ihre Reihenfolge ist ebenfalls verschieden – so steht der Aha-Effekt bei der Inspiration schon am Anfang, beim provozierten Geistesblitz am Ende des Prozesses – es lässt sich aber dennoch Grundsätzliches ableiten:
- Wenn alles perfekt geplant abläuft, weil akribisch dafür gesorgt wird, dass nichts Unvorhergesehenes passiert, gibt es keine Grundlage für Improvisation.
- Man braucht Menschen, die mit Leidenschaft und Interesse ausgestattet sind. Wenn heute in jeder Bewerbung – gleich nach Teamfähigkeit – Kreativität stehen muss, fühlt man sich gezwungen, kreativ zu sein. Der Zwang steht aber der Leidenschaft zuwider.
- Es braucht Tüftler mit der Geduld, auch über lange Durststrecken hinweg dran zu bleiben.
- Übung macht auch bei Kreativität den Meister.
Sie haben alle Episoden gelesen und fragen sich: Ja und, was ist jetzt neu daran? Ein Vergleich und eine Diskussion unserer Forschungsergebnisse mit den bisherigen Theorien und anderen Forschungen zum kreativen Denken lesen Sie in Episode 6
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