Der Geistesblitz und wie er in die Welt kam: Episode 3
Eintauchen, Spielen, Distanzieren – die kreative Verfassung
Dieser Beitrag ist der 4. Teil einer Serie zu unserer Studie zum kreativen Denken.
Zum Prolog geht es hier.
Zur Episode 1, “Visual Thinking”: hier.
Zur Episode 2, “Kreative Haltung”: hier
Lesezeit: 7 Minuten
„Ich muss mich erst hinein versetzen, um es zu reproduzieren.“
„Sich komplett drauf einlassen. Das Göttliche sehen. Kanäle alle auf machen, jetzt kann was passieren. Eintauchen. Zulassen.“
„Man wird Teil dessen. Es muss Tiefe bekommen. Es saugt mich so rein wie ein Staubsauger.”
„Das hat sich verselbständigt. Es hat mit mir was gemacht. Das ist dieser Schlauch.“
„Man fängt an, mit den Bedingungen zu spielen, geht aus der Box raus.“
„Das ist das Ei des Columbus. Das zu erfassen, IST das Universum.“
Ich zucke erschrocken zusammen, weil mir jemand auf die Schulter getippt hat, der anschließend beteuert, mich zuvor schon mindestens 3 Mal laut angesprochen zu haben. So versunken in eine kreative Arbeit, dimmt man alles um sich herum herunter. Auch Zeitlöcher gehören nicht der Science Fiction-Welt an, sondern es gibt sie wirklich. Plötzlich sind ein paar Stunden einfach verschwunden. Hatte ich heute eigentlich schon etwas gegessen? Ich kann mich nicht erinnern.
Während sich die Welt beim Eintauchen in ein Thema zunehmend auf dieses Thema, dieses Ding, Phänomen, dieses technische Problem oder diese eine weiße Leinwand verengt, blüht das Ding selbst gleichzeitig auf, faltet sich auseinander und beansprucht schließlich den gesamten Platz, den zuvor die ganze Welt, zumindest meine eigene alltägliche Welt, eingenommen hatte. Ich hab morgen einen Termin beim Friseur, die Stromrechnung ist noch nicht bezahlt, ich muss noch Wäsche waschen, einkaufen, ein Angebot schreiben, die Krim-Krise, Uli Hoeneß, ja wie find ich denn das … und , und, …
… und wenn all das in den Hintergrund tritt, ist viel Platz für das Ding, sich auszubreiten, sich zu offenbaren. Plötzlich zeigt es mir, was es noch alles sein könnte, wofür man es noch alles verwenden könnte, was es in seinem Wesen eigentlich ist.
Ja, jetzt weiß ich gar nicht mehr, was es eigentlich ist. Als ich die Wäsche in die Maschine stopfte, war ich mir noch sicher gewesen, dass es sich einfach um einen Stuhl handelt. Jetzt ist es ein Was-auch-immer-Ding mit bestimmten Eigenschaften, mit denen es fremde Welten eröffnet, die Welten der Möglichkeiten, die in ihm stecken und die mir – solange ich glaubte, es sei einfach nur ein Stuhl – verborgen geblieben waren. Das hochkonzentrierte kreative Eintauchen verengt den Blick auf die ganze Welt in einem Stuhl, einem blöden, profanen Stuhl, der jetzt das Universum ist und die Fragen aller Fragen zu beantworten imstande. Buddhismus ist zwar nicht mein Ding, aber die Geschichte mit dem profanen Stein, in dem Siddhartha dann die Weisheit der ganzen Welt findet, konnte ich nachvollziehen.
Jetzt ist das Ding offen. Man kann damit spielen: Auseinandernehmen, neu zusammen fügen, umkehren. Man kann das Sitzen auf Stühlen körperlich nachempfinden, es mit sinnlich-ästhetischem Denken zu dem werden lassen, was unterschwellig in ihm steckt, ergründen, welche Charaktereigenschaften ein Stuhl eigentlich hat. Man kann den Stuhl in der Vorstellung überall hin stellen – auch dort, wo er nicht hin gehört – und nachspüren, was seine Anwesenheit an bekannten und fremden Orten bewirkt. Ist der Stuhl erst das Universum, um das sich alles dreht, und nicht mehr ich und mein profaner Alltag, ist nahezu alles mit ihm möglich!
Mir kommt in den Sinn, wie Stühle durch ihre Form, ihren mehr oder minder Sitzkomfort uns in unserem Empfinden manipulieren. Fühlt man sich aufgehoben, möchte man verweilen oder fühlt es sich eher wie ein „Besser schlecht gesessen, als gut gestanden“ – Notbehelf an? Daraus entwickle ich meine Funktionsstuhl-Reihe einer imaginären Warteschlange: langes Warten / kurzes Warten / im nächsten Moment zum Aufstehen bereit.
Was wir in unserer Forschungsstudie zur hochkonzentrierten Verfassung des kreativen Denkens heraus gefunden haben, ist vermutlich nichts anderes als das, was Mihaly Csikszentmihalyi schon entdeckt hat und „Flow“ nennt. Macht aber nichts, weil in der Forschung ist es nicht unbedingt Ziel, etwas Neues zu erfinden / zu entdecken, sondern etwas schon Bekanntes noch einmal zu bestätigen, ist auch ein Erfolg.
Eintauchen / Flow an sich ist aber nicht den Kreativen vorbehalten. Es passiert einem auch im Kino, wenn man ganz in der Filmhandlung aufgeht, so als wäre man selbst Protagonist der Geschichte, oder wenn man ein spannendes Buch liest. Es ist nur eine der Grundbedingungen, die erst im Zusammenspiel mit den beiden anderen – siehe Episode 1 (sinnlich-gestalthaftes Denken) und Episode 2 (kreative Haltung) – kreatives Denken ausmacht (siehe Links oben).
Es hat aber auch Kehrseiten. Wenn das Thema, das Ding sich zum Universum aufplustert, ist es alles und alles lässt sich schwer hinterfragen, denn es fehlt der Vergleich mit etwas anderem (Das ja nicht da ist, weil das Ding alles einnimmt und alles andere verdrängt). Man ist also völlig außerstande, die universalen Weisheiten, die man im erweiterten Ding erkennt, auch zu beurteilen, denn es gibt keinen „Unterschied, der einen Unterschied macht“ (Gregory Bateson), wenn es nur das unvergleichliche eine Ding gibt. Man büßt beim Eintauchen sein – „objektiv“, gegenüberstellendes – Urteilsvermögen ein. Alles, was mir dieses Ding, wenn es Universum geworden ist, offenbart, kann nur die Wahrheit schlechthin sein, mangels eines vergleichenden Gegenübers.
Kaum aufgetaucht aus dem Flow, hab ich das dumme Gefühl, dass meine Skizzen … ok, es war ein guter Versuch … ich schiele verstohlen auf den Papierkorb … darf ich? Ja, jetzt wo das Ding nicht mehr das Universum ist, darf ich auch kritisch beurteilend die Skizzen entsorgen, bevor sie noch einer sieht, wie peinlich! Da muss ich wohl nochmal dran! „Die Idee kann sich auch als schlechter Scherz entpuppen. Sie kommt mit einer Pulle Wein vorbei. Man denkt, das wird ein toller Abend. Am nächsten Tag hat man einen Kater.“
Vor allem, wenn man eine Aufgabenstellung hat, die man kreativ erfüllen soll, muss man auch immer mal wieder mit einem kritischen Blick auf die eigenen Ideen schauen, sie mit der Aufgabe abgleichen, sich ernsthaft fragen, ob das wirklich eine gute Idee, eine gute Lösung ist oder besser den Weg allen Irdischen gehen sollte: Ab in die Tonne! Selbst der freie Kunstmaler, der keiner Aufgabenstellung eines Auftraggebers, nicht einmal dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verpflichtet ist, tritt zwischendurch immer mal wieder einen Schritt zurück und beurteilt sein Schaffen mit bewertender Distanz, um es im Anflug einer kritischen Überreaktion, aggressiv mit dickem Pinsel wieder zu übermalen. (Bei digitaler Bildbearbeitung liebe ich übrigens die „undo“-Taste.).
„Ich wäge die Vor- und Nachteile der Teillösungen ab, z.B. Machbarkeit, Kosten, Zeitaufwand. Viele Dinge muss man schon früh bewerten.“
„Alles ist möglich, das total Freie. Total offen. Die Seite alleine ist Illusion. […] ,hat am Ende nichts mit Erfolg zu tun.“
Eintauchen in und Verschmelzen mit dem Thema einerseits und Distanzieren und Bewerten andererseits changiert im kreativen Prozess hin und her. Kreatives Denken heisst nicht absolute Freiheit, sondern das Wechselspiel von Eintauchen und Distanz zu beherrschen: Eins werden mit dem Ding / Thema, es zum Universum der Möglichkeiten werden lassen und sich wieder entfernen, um es kritisch zu beurteilen. Wieder Eintauchen und ganz darauf einlassen und abermals zurück treten und kein gutes Haar dran lassen, bis die Frisur einfach überzeugt, eine gute Gestalt hat, bis das Werk / die Lösung so selbstbewusst daher kommt, dass man ihr nichts mehr entgegen zu setzen weiß. Sie wird ein Eigenes. Soll sie ihren Weg finden!
„Wenn es fertig ist, interessiert es mich eigentlich nicht mehr. Ich bin dann von der Idee befreit und kann mich neuen Aufgaben zuwenden.“
Changieren zwischen Eintauchen/Verschmelzen und Distanzieren/Bewerten im Überblick:
- Die kreative Verfassung ist geprägt vom sog. Flow-Zustand, einem tiefen, konzentrierten Eintauchen in das Thema / Aufgabenstellung.
- Der kreative Mensch tritt mit seinem „Ich –Gefühl“ zurück und überlässt den Raum dem Thema, Ding, der Aufgabe und dem schöpferischen Prozess, ähnlich wie wenn man sich ganz der Handlung eines Kinofilms hingibt und in die Geschichte eintaucht, als sei man Teilnehmer der Handlung.
- Das Ding / die Aufgabe wird durch das Eintauchen und Verschmelzen von seinen stereotypen Zuweisungen befreit. Ein Stuhl wird z.B. von der Zuweisung Stuhl / Sitzmobiliar befreit und wird zu einem Etwas mit Eigenschaften (z.B. 4 Senkrechte Stäbe unten, darüber eine waagerechte Fläche, usw.).
- Durch die Auflösung des Dings in seine Eigenschaften, eröffnet es neue mögliche Definitionen, mit denen man spielen / experimentieren kann (die 4 senkrechten Stäbe unten könnten jetzt auch 4 Beine sein und die Sitzfläche der Rücken eines Tieres, siehe Abbildung oben).
- Die Qualität von Ideen lässt sich im Flow-Zustand jedoch nicht bewerten. Es fehlt die „objektive“ Sicht, die man beim Einswerden mit dem Ding verliert. Das macht es nötig, auch immer wieder kritische Distanz einzunehmen.
- Kreative haben in der Regel ihre eigenen Hilfsmittel, mit denen sie sich selbst in eine solche Flow-Verfassung bringen können (Das ist nötig, weil sie meist Abgabetermine einhalten müssen und daher nicht darauf warten können, dass sich der Flow spontan einstellt).
Die Flow-Verfassung ist situativ, auf den Moment bezogen und sie kann sich auch spontan einstellen, wenn man z.B. von der Handlung eines Films regelrecht mitgerissen wird. Soll sie gezielt erzeugt werden, kann jedoch eine längere Übergangsphase nötig sein. Auch wenn die Umgebung im Flow-Zustand ausgeschaltet wird und daher nicht wichtig ist, kann sie für das Eintauchen in diesen Zustand wichtig sein. Die Situation, aber auch Gemütslage – z.B. alltägliche Sorgen – können das Eintauchen daher erschweren oder gänzlich behindern. So können Kreative von mehr oder minder langen Phasen der Ideenlosigkeit heimgesucht werden, aus der sie mit den gewohnten Hilfsmitteln nicht heraus kommen.
Kreativtechniken sind gute Werkzeuge im Prozess des Spielens mit den Möglichkeiten. Sie sind jedoch nicht dafür geeignet, zum Eintauchen zu verhelfen. Menschen, die es nicht geübt sind, sich selber in einen solchen Zustand zu versetzen, muss man Unterstützung bieten: Eine stressfreie Atmosphäre, die zum Eintauchen in andere Welten inspiriert, einen anschaulichen, die Einfühlung begünstigenden Zugang zum Thema. Mitunter kann es hilfreich sein, ein Vorbild spielerischer Fantasie zu bieten.
Welche Rolle das Eintauchen für den Geistesblitz, oder auch Aha-Effekt genannt, spielt … darum geht es in Episode 4
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