Der musikalische Geistesblitz und wie er in die Welt kommt

Julius Bahle: Zur Psychologie des musikalischen Gestaltens

Lesezeit: 7 Minuten

Musik und psychologische Forschung

Es gibt leider wenig psychologische Forschung zur Musik und zum Musikerleben (das Meiste ist eher musiktherapeutisch orientiert), und noch weniger zum Erfinden von Musik, zum Komponieren. In unserer 2014 durchgeführten Studie zum kreativen Denken waren zwar auch zwei Komponisten als Testpersonen vertreten, es waren aber eben nur zwei unter vielen anderen Kreativen wie bildenden Künstlern, Filmemachern, technischen Erfindern etc. 

Beide Komponisten in der Stichprobe waren auch sehr unterschiedlich in ihrem Vorgehen. Der eine improvisierte so lange auf dem Keyboard, bis zufällig etwas Brauchbares erklang, arbeitete also eher mit Versuch und Irrtum. In den 1990ern ist ihm damit ein großer Hit gelungen, an den er aber nie wieder anknüpfen konnte. Der andere Komponist, inzwischen Professor für Komposition, ging sehr gezielt und strategisch vor. Wenn er z.B. Musik zu einem Film schreiben wollte, versetzte er sich aufwändig in den Film, seine Handlung und Atmosphäre hinein, suchte passende Bilder aus dem Internet und heftete sie zusammen mit zentralen Begriffen an eine Pinnwand, oder er lauschte den Geräuschen beim Fahrradfahren, ob sie ihm eine Inspiration geben – alles, bevor er sich zum ersten Mal ans Klavier setzte. Er beschrieb dies damals so, dass er zuerst einen „Geschmack auf der Zunge“ benötigt. Nicht selten kommt dann der Geistesblitz sehr plötzlich, und erst dann geht es ans eigentliche musikalische Gestalten.

Hier zeigten sich Grundzüge kreativer Prozesse, die wir bei vielen anderen Berufskreativen gefunden hatten: Das sinnlich-gestalthafte Denken, die kreative Brille, mit der alles betrachtet – oder in diesem Fall behört – wird, das Auflösen vertrauter Muster und das plötzliche ‚Einrasten‘ eines neuen (musikalischen) Musters. Was hier passiert beim Vertonen eines Films, also dem Übersetzen einer filmisch-szenischen Gestaltqualität in eine musikalische, lässt sich jedoch noch besser verstehen, wenn man sich die Arbeiten von Julius Bahle anschaut.

Julius Bahle und die historisch-experimentelle Methode

Julius Bahle war ein deutscher Psychologe, der in 1920ern und 1930ern Jahren zu musikalischen Schaffensprozessen forschte. 1936 brach seine Forschungstätigkeit dazu ab, aufgrund von, sagen wir, Stress mit den Nazis. Bahle lebte noch bis in die 1960er Jahre in der Schweiz und arbeitete dort als Therapeut, seine musikpsychologischen Studien hat er jedoch leider nie wieder aufgegriffen. Auf der letzten Seite seines Buchs „Der musikalische Schaffensprozess“ von 1936 kündigt er noch einen zweiten Band an. Den hat es aber nie gegeben.

Heute würden wir sagen, dass Bahle mit qualitativen Methoden gearbeitet hat. Auf ihn geht die „historisch-experimentelle Methode“ zurück, d.h. er wertete zum Einen historische Zeugnisse von Komponisten aus (was Komponisten selbst über ihre Schaffensprozesse geschrieben hatten oder andere über Komponisten), zum Anderen arbeitete er experimentell: Es stellte Komponisten eine Aufgabe, die sie musikalisch umsetzen und dabei alles protokollieren sollten, was ihnen im Prozess in den Sinn kommt. Teilweise führte er auch Interviews mit den Komponisten, wenn ihm das Protokoll noch zu viele Fragen offen ließ. Das Vorgehen ähnelt übrigens den Methoden von Nigel Cross, einem Pionier des Design Thinking Research, der in den 1970ern und 1980ern ähnlich mit Designern vorging, indem er ihnen Aufgaben gab, die sie in Design umsetzen und dabei ihre Gedanken protokollieren sollten.

Die Aufgaben, die Bahle den Komponisten stellte, waren z.B. die Vertonung eines Gedichts, oder auch von Begriffen wie Heiterkeit, Traurigkeit oder Angst, teils auch von sehr konkreten Dingen wie ‚Der Geizhals‘ oder ‚Der Jongleur‘. Dies kommt den Aufträgen vieler Komponisten sehr nahe, wenn sie z.B. eine Filmhandlung musikalisch gestalten. Zu Bahles Probanden zählten auch bekannte zeitgenössische Komponisten wie Richard Strauß, Carl Orff oder Arnold Schönberg.

Emotionale Ein- und Umstellung

Ich gebe seine Erkenntnisse hier jetzt sehr verkürzt wieder, und beziehe mich auch nur auf seine Dissertation von 1930 (s.u. in der Literaturliste), weil ich auf einen bestimmten Punkt hinaus will. Wer sich für mehr Details interessiert, dem empfehle ich, seine beiden wichtigsten Bücher zu lesen (s.u.). Sie lesen sich sehr flüssig und sind voll von Auszügen aus den Protokollen der Komponisten und ihren teils sehr lebendigen und konkreten Beschreibungen. Man findet die Bücher mit etwas Glück im Antiquariat (und mit etwas mehr Glück auch zu einem bezahlbaren Preis).

Zunächst – so formuliert Bahle – versetzten sich die Komponisten in einen „dem Reizwort entsprechenden Gemütszustand“ (S. 17). Er nannte es die „emotionale Ein- und Umstellung“ (S. 18). Er fand für die „emotionale Ein- und Umstellung“ sechs Methoden, derer sich die Komponisten bedienten. Eine Methode z.B. ist es, persönliche Erlebnisse oder Vorstellungen zu erzeugen, die man mit dem Reizwort verbindet: Wo und wann habe ich selbst Angst erlebt, oder war heiter, oder ist mir ein Geizhals begegnet? Eine andere Methode ist der Einsatz körperlicher Veränderungen. Bei Angst atmet man schnell ein und aus, bei Stolz richtet man sich auf. Die Komponisten versuchten, das Gefühl selbst zu erleben, es in sich zu erzeugen. Dabei gingen sie meist zunächst den Umweg über sinnliche Vorstellungsbilder. Ich musste beim Lesen an den „Geschmack auf der Zunge“ und die mit Bildern aus dem Internet gefüllte Pinnwand denken, die für den Komponisten in unserer Studie so wichtig waren.

Im nächsten Schritt fand die Umwandlung in einen musikalischen Ausdruck statt. Die Komponisten waren dabei geleitet von einem „Adäquatheitsstreben“ und einem „Originalitätsstreben“ (S. 33 ff.). Adäquatheit bedeutet, dass der musikalische Ausdruck das innere Erlebnis wiedergeben konnte bzw. in der Lage war, es in einem selbst zu erzeugen. So empfand z.B. ein Komponist jambisch gespielte Septimen als einen adäquaten Ausdruck für den Geizhals, weil das dissonante Intervall und die abrupte Spielweise das Groteske und Fratzenhafte des Geizhalses am besten wiedergaben. Ein anderer dachte bei Stolz sofort an Bläser, oder ein anderer bei Traurigkeit an H-Moll, oder bei Heiterkeit an einen ¾-Takt. Teils wurden auch solche Formen reproduziert, die man aus anderen Werken oder selbst aus früheren Arbeiten kannte. Gleichzeitig wurden diese musikalischen Formen aber wieder modifiziert, so lange, bis sie einem neu und einzigartig erschienen. Das war dann das neben diesem „Adäquatheitsstreben“ zugleich waltende „Originalitätsstreben“.

Transformation und Isomorphie

Dies beschreibt Bahle als Transformationsprozesse von außermusikalischen Ausdrucksbewegungen in musikalische Formen. Genauer:

„Nicht die Gefühle, wohl aber ihre Ausdrucksbewegungen werden durch die Übertragung von Gestaltmomenten musikalisch nachgebildet.“ (S. 56)

Zusammenfassend hält er fest, dass

„die musikalische Erfindung auf einer Entdeckung von Gestaltmomenten der Ausdrucksbewegungen bzw. der Gefühlsverläufe beruht, die sich in rhythmisch-dynamische und tonale Formen umsetzen lassen“. (S. 58)

Verbindet man also mit dem Geizhals etwas Dürftiges, Knauseriges und Zögerliches, dann wird dieser Gestaltmoment (das Dürftige) der Ausdrucksbewegung vom Geizhals musikalisch umgesetzt z.B. durch eine zögerliche, gehemmte oder abrupte Melodieführung. Dieses Prinzip der ‚Isomorphie‘ ist auch dem Designer bekannt (jedenfalls dem, der unser Buch ‚Wie Design wirkt‘ gelesen hat;-))

Rückkopplungsschleifen

Nun finden schlussendlich noch eine oder mehrere Rückkopplungsschleifen statt, d.h. der Komponist prüft an sich selbst die Wirkung des Komponierten, ob es auch die erwünschte Gefühlswirkung bei ihm selbst erzeugt. Ähnlich dem Jazzmusiker, der beim Improvisieren die Wirkung der gespielten Phrasen auf sich selbst beobachtet, oder dem Schauspieler, der einen bestimmten Ausdruck vor dem Spiegel an sich selbst überprüft. Der erste Komponist aus unserer Studie (der mit Versuch und Irrtum arbeitete), verließ sich offenbar ausschließlich auf diese Rückkopplung. Auch die weitere Ausarbeitung des musikalischen Motivs war dann kein reines Umsetzen, sondern selbst wieder ein kreativer Prozess, bei dem das Motiv gedreht und gewendet wurde, neue Schwierigkeiten auftauchten, die gelöst werden mussten, neue Einfälle, die eingearbeitet wurden etc. Es entsprach mehr einem ‚Verwerfen‘ als einem ‚Entwerfen‘, wie es auch Friedrich von Borries in „Weltentwerfen“ (2016) für den Designprozess beschreibt.

Gestaltbrechung

Die Lektüre von Bahle war insofern für mich interessant, weil ich hier einige zentrale Erkenntnisse aus unserer eigenen Forschung bestätigt gefunden habe, wie das sinnlich-gestalthafte Denken. Vor allem beschreibt er sehr anschaulich, wie in den zugrunde liegenden Transformationsprozessen beim kreativen Denken (die sich auch bei anderen Kreativen im künstlerischen oder auch technischen Bereich zeigen), der Weg nur über das Auflösen geht. Er beschreibt dieses Auflösen als ein „Entdecken von Gestaltmomenten von Ausdrucksbewegungen“. Das Gefühl der Heiterkeit oder das Bild und die Erfahrung des Geizhalses wird auf das inhärente „Gestaltmoment“, das anschauliche Strukturgerüst oder die Spannung (Arnheim, 1974) hin aufgelöst, wie z.B. das Zögerliche beim Geizhals. Dieses Strukturgerüst (oder die Gestaltqualität) erst wird gewissermaßen ‚auf die Reise‘ in andere Ausdrucksformen geschickt, hier in rhythmisch-dynamische und tonale.

In der Psychologie sprechen wir auch von Gestaltbrechung, also der Transformation eines Wesentlichen eines konkreten Ausdrucks in etwas anderes. Die Spannung zwischen „Adäquatheitsstreben“ und „Originalitätsstreben“ betont, dass bei dieser Gestaltbrechnung nicht nur das Wesentliche (die Gestaltqualität, wie eine Melodie bei einer Transposition in eine andere Tonart) erhalten bleiben soll, sondern sich zugleich in etwas Neues und Einzigartiges verwandeln. In ein neues Muster, das ‚einrastet‘. Der Komponist bricht also nicht nur das persönlich Erlebte bzw. in sich erzeugte Gefühl in musikalischen Formen (wie in einem Prisma), er bricht auch mit ihnen (zerstört sie) und verändert sie durch den Transformationsprozess.

Die Eigenart des Musikalischen

Was mir bei Bahle allerdings ein wenig fehlte (und bestimmt in dem zweiten, nie geschrieben Band drin gewesen wäre), ist die Analyse, wie genau diese Transformation gerade in musikalische Formen geschieht. Das ‚Musikalische‘ ist eine ganz eigene Wirkungswelt, mit eigenen Bedingungen und Ausdrucksmöglichkeiten. Die Transformation etwa von sinnlich-anschaulichen Erlebnissen in diese Wirkungswelt muss sich die Bedingungen eben dieser Welt zu eigen machen, sich in sie hineinverwandeln bzw. sie nutzen, um isomorph zu wirken. Zu diesen Bedingungen könnten z.B. zählen, dass Musik eine Gestalt in der Zeit ist, die nur über Entwicklung und Entfaltung über einen gewissen Zeitraum zur Wirkung kommt. Oder der Gegensatz von Formstrenge und Ausdruck. Musik ‚lebt‘ in einem relativ strengen Regelwerk von Takten und Intervallen. Wiederholung ist ein wichtiges Kennzeichen ihrer Grammatik. In dieser Formstrenge drückt sich paradoxerweise die „außermusikalische“ Erfahrung aus, so wie Heiteres im ¾ Takt oder Geizhälsiges in großen Septimen. Zu den Bedingungen von Musik gehört auch das Verhältnis von Vertrautheit und Überraschungen. Es sind gerade die Wendungen und Übergänge, die vom Vertrauten (Phrasen, Harmonien, Kadenzen) in eine nicht vorher-hör-bare Richtung führen, die den Reiz im Musikalischen ausmachen (s. meine Theorie, dass berühmte Songs gerade von den überraschenden Übergängen leben).

Es gäbe noch einiges zu forschen. Wir werden es nicht tun (weil brotlos und Akquise-technisch wertlos). Bahle zu lesen, war mir dennoch ein Vergnügen.

Literatur:

Arnheim, Rudolf: »Anschauliches Denken: Zur Einheit von Bild und Begriff«. DuMont, Köln 1974 

Bahle, Julius: »Zur Psychologie des musikalischen Gestaltens«. Akademische Verlagsgesellschaft M.B.H, Leipzig 1930 

Bahle, Julius: »Der musikalische Schaffensprozess«. Paul Christiani, Konstanz 1947 

von Borries, Friedrich: »Weltentwerfen«. Suhrkamp, Berlin 2016

Cross, Nigel: »Design Thinking«. Berg Publishers, Oxford, New York 2011 

Heimann, Monika / Schütz, Michael: »Wie Design wirkt«. Rheinwerk Design, Bonn 2016

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