Send In The Clowns

Mit Musik hatten wir noch nie was auf KULTICK, daher mach ich mal einen Versuch…

Lesezeit: 6 Minuten

„Schickt die Clowns herein!“ Der Satz stammt aus der Zirkuswelt. Wenn in der Manege etwas schief läuft, z.B. jemand vom Trapez gefallen ist, oder eine Nummer beim Publikum nicht ankommt, dann werden schnell die Clowns hereingeschickt, um das Publikum wieder milde und heiter zu stimmen.

Der Song mit diesem Titel stammt aus dem Jahr 1973 und wurde von dem bekannten Broadway-Komponisten Stephen Sondheim geschrieben. Es ist das bekannteste Stück aus dem Musical „My Little Night Music“ und wurde in kürzester Zeit zum Welthit. Der Song handelt – wie so oft bei Songs halt – von einer enttäuschten Liebe. Die Darstellerin im Musical schwankt zwischen Hoffnung und bitterer Gewissheit, dass der Liebste für immer verloren ist. Immer wenn sie die Traurigkeit überkommt, ruft sie nach den Clowns, die sie wieder aufheitern sollen. Richtig berühmt wurde der Song erst durch die Interpretation von Frank Sinatra, der ihn von dem ganzen Streichergejaule befreite und nur mit Klavierbegleitung sang, gespielt von Bill Miller. Die Sintatra-Miller-Version kann man hier hören: Link zu YouTube.

Zum Text von „Send In The Clowns“ finden sich Unmengen an Interpretationen, zur Musik an sich aber erstaunlicher Weise nicht. Ein klarer Fall für KULTICK! Und ganz nebenbei halte ich ihn für einen der genialsten Songs ever.

Das Stück ist ziemlich einfach und selbst mit meinen rudimentären Klavierkenntnissen in kürzester Zeit nachzuspielen, und zugleich auf einfachste Weise sehr wirkungsvoll. Mit Wirkungen befassen wir uns nun ständig, aber eben der Wirkung von Design oder Kunst (und haben sogar ein Buch darüber geschrieben). Auch wenn solche Wirkungen ein hochkomplexes Zusammenspiel vieler Faktoren ist, sind wir inzwischen ganz gut in der Lage, aus Farben, Farbkontrasten, Bildern, Formen, Oberflächen, der Atmosphäre und Flächenkomposition, dem Stil etc. bestimmte Wirkungen (Gestaltqualitäten) abzuleiten und zu erklären.

Aber wie ist das mit Musik? Oder auch: Wenn Send In The Clowns ein Bild oder Gemälde wäre, wie sähe das aus? Wie im Design gibt es in der Musik Klang-Farben, ein Struktur-Gerüst, Melodie-Formen, einen Stil usw. Vermutlich ein sehr einfaches aber eben auch wirkungsvolles Bild. Vielleicht so ähnlich wie der blaue Akt von Henri Matisse? Obwohl mir persönlich die Farbe (blau) nicht passt (blau ist schließlich D-Dur, und nicht Eb-Dur, oder?)

Bei den Wirkungs-Qualitäten kann ich natürlich nur von mir selbst ausgehen: Ich würde die Gesamtqualität als hoffnungsvolle Melancholie beschreiben: Der Song beginnt mit einer fast fröhlich-beschwingten Grundtonalität, die von einer leichten Spannung oder Vorfreude unterlegt ist. Immer wieder setzt die Entwicklung zu einer seufzend-enttäuschten Wendung an, die einen auf den Boden der traurigen Wahrheit herunterzieht, dann aber wieder zu einer heiteren, hoffnungsvollen Grund-Atmosphäre zurückkehrt. Sehr passend zum Text. Dazu ein tragender und doch irgendwie traurig-schleppender Rhythmus.

Wie genau kommen diese Wirkungen nun zustande? (Achtung, ich bin kein Musiktheoretiker, vielmehr kratze ich jetzt all mein Wissen über Harmonielehre zusammen – meinem alten Saxophonlehrer sei Dank, aber Achtung: Wer mit den ganzen kleinen und #  nichts anfangen kann, sollte die kursiv gestellten Textpassagen besser überspringen).

Der Anfang des Stücks ist eine Art Hin-und-Her-Wiegen zwischen dem Grundakkord und dem gleichen Akkord mit einer leichten Spannung. Dies schafft eine wohlige Schwebe, von der man sich schnell und gerne tragen lässt. Die beiden Akkorde könnte man übrigens ewig weiterspielen. Überhaupt: Die Tonart (das Stück ist in Eb-Dur), eine warme, weiche und positive Atmosphäre. Orange?

Für die Experten: Die Schwebe entsteht durch den Wechsel des Grundakkords (Eb) und dem Grundakkord mit Quartvorhalt („suspended“: Ebsus –– gespielt werden die Töne Eb-Ab-Bb).

Ganz typisch aber finde ich die kleinen Wendungen im Song, das sind die unverwechselbaren Stellen, die den Song erst ausmachen. So eine kleine aber wirkungsvolle Wendung ist v.a. diese hier:

 

Relativ lange folgt die Melodie dem Grundakkord (in dieser leichten Schwebe), und dann folgt ein ziemlich einfacher und an sich üblicher Harmonie-Wechsel. Dieser Wechsel wirkt beruhigend und befriedigend und ist der einfachste und vermutlich häufigste Harmoniewechsel überhaupt (in vielen Rock- und Popsongs manchmal auch der einzige). Das Besondere hier: Die Melodie macht dazu einen tiefen Schritt nach unten und die ganze fröhliche und leicht angespannte Wirkung ist mit einem Mal dahin. Ein tiefer Seufzer, es wird Zeit, dass die Clowns kommen.

Für die Experten:  Es handelt sich um einen Wechsel auf die Subdominante (der Akkord über dem vierten Ton über dem Grundton: hier das Ab). Allerdings wäre der kürzeste Weg von der Quinte des Grundtons der Tonika (also das Bb im Eb-Dreiklang) auf die Terz der Subdominante (das C im Ab-Dreiklang) eigentlich nur ein kleiner Schritt, eine große Sekunde nach oben. Stattdessen aber führt die Form (Melodie) überraschend und unüblich den ganzen Weg herunter – eine ganze Oktave tiefer – auf das Bb, um dann mit einem kleinen Ausfallschritt nach oben auf dem C zu landen. Toll, oder? Einfacher und wirkungsvoller geht es doch gar nicht (ja, ja, haltet mich für verrückt). 

Es gibt noch so eine Stelle, diesmal anders herum, ein kleiner Fröhlichmacher. Am Ende des ersten Teils:

 

Nachdem die Entwicklung schon längst wieder im ruhigen Fahrwasser dahinplätschert, der Song fast schon abgerundet zu einem vermeintlichen Ende gekommen scheint oder wo man stumpf wiederholend weitersinnieren könnte, da, ganz plötzlich geschieht es: Eine überraschende aber auch wieder sehr befriedigende Melodie-Figur, die den zweiten, aufmunternden Teil einleitet. Jetzt kommen sie, die Clowns, und machen uns Spaß.

Für die Experten: Der Wechsel vom Grundakkord (Eb-Dur) auf den Moll-Akkord über der Note eines Ganztons höher (f moll) wird speziell im Jazz oft gespielt (typische Kadenz: I – II – IV – V). Überraschend und unüblich an dieser Stelle ist aber die bereits hier abschließend klingende Tonfolge Eb – D – Eb. Der zweite Teil des Songs, der hier eingeleitet wird, ist dann flotter und beschwingter. Die Melancholie ist aber nicht verschwunden, sondern wurde ins Tongeschlecht verschoben: g moll.

Und hier, eine kleine, gemeine Stelle im zweiten Teil:

 

Wenn die Clowns ihre Nummer abgezogen haben und einige Kapriolen und Saltos geschlagen haben, wird einem wieder allen Wind aus den Segeln genommen, mit einem einzigen kurzen und leicht drückenden Übergang: Das Spielchen beginnt nun von vorne. Um der Melancholie ganz zu entfliehen, dafür taugen selbst Clowns nicht.

Für die Experten: Die Kapriolen werden erzeugt u.a. durch die Mut machende und sehr schnelle Kadenz der Akkorde Eb – F – Ab – Gsus und dem zwischenzeitlichen und kaum bewusst wahrnehmbaren Wechsel vom 12/8-Takt auf einen 9/8 Takt. Der Übergang danach wird durch einen verminderten F-Akkord (Fm7b5), quasi als Scharnier zwischen Dur (Gsus) und Moll (Gm) eingeleitet.

Man könnte Send In The Clowns ewig so weiterspielen, sehr zum Leidwesen der Atelier-Nachbarn. Der erste Teil fordert den zweiten und der zweite den ersten, man kommt aber aus der Nummer nie raus.

Ach ja, wie das Ganze jetzt tatsächlich als Bild aussehen könnte? Keine Ahnung! Vielleicht hat jemand eine Idee?

Was ich aber aus der Beschäftigung mit dem Song (die viel Spaß gemacht und mich wunderbar von der Arbeit abgehalten hat) gelernt habe:

  • In der Musik hat man es ähnlich wie beim Design und der bildenden Kunst mit einem sehr komplexen Zusammenspiel sehr vieler Gestaltungselemente zu tun. V.a. aber deutlich stärker mit einem Stimmungs-Spiel: Wechsel, Übergänge, Entwicklungen (Musik spielt sich schließlich im Nacheinander in der Zeit ab, Design und Kunst mehr in der Gleichzeitigkeit – auch wenn sich im Kopf oft ein kleiner Film abspielt).
  • Gerade in der Musik sind es manchmal die kleinen Figuren und Übergänge, die einen Song erst unverwechselbar und berühmt machen, und die machen für mich zu einem guten Teil das Geheimnis der Wirkung gerade von Send In The Clowns aus – spielt man den Song ohne die kleinen Übergänge (oder verändert sie – auch eine Form der künstlerischen Forschung by the way), wird der Song profan und langweilig.
  • Und noch eines hat Musik mit bildender Kunst gemein: Das, was auf den ersten Blick so simpel und einfach daherkommt, ist tatsächlich sehr vielschichtig und subtil und bedarf manchmal des Geniestreichs eines Stephen Sondheims.
  • Ach ja, und – schreibt man über Musik – kommt man offenbar nicht ganz ohne Fachbegriffe und so kleine und #  aus.

Wer schmerzfrei genug ist: Hier noch mal den Song im Ganzen instrumental und frei von mir auf dem Klavier dilettiert (rein zu Forschungszwecken natürlich; man achte auf die Clowns) – ich empfehle allerdings stattdessen Sinatra/Miller;-)

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