Nach neusten Erkenntnissen aus der Gehirnforschung…

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Sind Sie auch schon öfter auf Webseiten von z.B. Beratern über diesen Satz gestolpert? Meist befindet er sich in der Leistungsbeschreibung irgendwo zusammenhangslos mitten im Text. Um welche Erkenntnisse aus der Gehirnforschung es sich dabei handelt und wie diese im Zusammenhang mit der Leistung stehen, wird i.d.R. nicht verraten, nur dieser eine Satz. Das kann man positiv „enormen Mut zur Lücke“ nennen. Es zeigt aber vor allem sehr deutlich, dass offenbar ein solch belangloser Satz reicht, um sich den Anschein von wissenschaftlicher Expertise zu geben, zumindest scheint hier der Wunsch der Vater der Satzschöpfung oder –kopie zu sein und möglicherweise funktioniert es sogar. Teils hatte ich in letzter Zeit die Hoffnung, der Hirn-Hype schwächt sich ab. Ich hoffe weiter…

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Dabei möchte ich gleich klarstellen, dass die seriöse Hirnforschung nichts dafür kann, dass solche Sätze die Leistungsbeschreibungen zieren. Vielleicht hat aber der ein oder andere medienliebende Hirnforscher, der sich auch als Neuro-Verkaufs- oder -Führungstrainer gebiert – ich nenne keine Namen –  doch einen gewissen Anteil am „Neuroismus“, der neuen Religion, die aus dem Computertomographen kam. (übrigens soll man den echten Neuro-Experten schon daran erkennen können, dass er es „Hirnforschung“ und nicht „Gehirnforschung“ nennt)

Unlängst traf ich bei einem Kundentermin auf einen gelernten Einzelhändler, der keinen zu Wort kommen ließ, weil er – auch wenn das gar nicht das Thema war – schon fast zwanghaft seine geniale Expertise im Neuromarketing pries und alles andere, z.B. ein psychologisches Tiefeninterview, als völlig falsch deklarierte. Man könne Menschen doch nicht befragen, denn schließlich entscheide das Unterbewusstsein (übrigens soll man den echten Psychologie-Experten schon daran erkennen können, dass er es „Unbewusstes“ und nicht „Unterbewusstsein“ nennt).

Ich möchte aber nicht über die minimalistisch mutigen Versuche schreiben, sich auf seiner Webseite den Anschein von naturwissenschaftlicher Kompetenz zu geben, indem man irgendwie den Schlüsselbegriff „Gehirn“ oder „Neuro“ unmotiviert in seine Leistungsbeschreibung mogelt, sondern über die merkwürdige Erscheinung “Neuromarketing”. Doch vorab Grundsätzliches.

Welche Erkenntnisse bringt die Hirnforschung?

Die seriöse Hirnforschung beschäftigt sich mit den organischen Vorgängen im Gehirn. Sie misst den Grad der Durchblutung von Hirnregionen, denen jeweils eine bestimmte Funktion zugesprochen wird. Für medizinische Erkenntnisse und Therapien kann sie daher durchaus nützlich sein, z.B. die Entwicklung von Hirnschrittmachern für Parkinsonerkrankte. Aber selbst in diesem Bereich bleibt sie hinter den Erwartungen zurück, die im berühmten „Manifest der Hirnforscher“ (2004) teils großspurig versprochen wurden. Würde man das Gehirn mit einem Computer vergleichen (der Vergleich hinkt natürlich gewaltig, aber er ist dafür recht anschaulich), dann beschäftigt sich die Hirnforschung mit der Hardware, während sich die „klassische“ Psychologie und andere Geistes- und Gesellschaftswissenschaften mit der Software beschäftigen.

Untersucht man die Hardware, kann man z.B. anhand der Hitzeentwicklung (sozusagen der „Durchblutung“ der Hardware) feststellen, welcher Teil des Computers gerade aktiv ist, z.B. die Grafikkarte. Daraus könnte man dann schließen, dass der Computer vermutlich gerade ein Bild bearbeitet. Man weiß aber nicht, wie das Bild aussieht und auch nicht, wie es gerade von der Software bearbeitet wird, also wie die Software funktioniert (das weiß man bei Software natürlich, weil sie eine menschliche Erfindung ist. Beim Denken, oder was auch immer das Gehirn tut, weiß man es aber nicht). Will man mehr wissen, muss man auf den Bildschirm schauen oder in den Softwarecode, denn aufgrund des Aktivitätszustands der Hardware kann man nicht auf die Funktionsweise der Software schließen oder darauf, wie das Bild aussieht, das gerade bearbeitet wird. Solange es keine Software ohne Hardware gibt, ist die Hardware natürlich notwendig, um das Funktionieren der Software zu ermöglichen.

Das Gehirn besitzt leider (oder Gott sei Dank!) keinen Bildschirm, auf den man schauen kann. Aber Menschen verhalten sich, besitzen Mimik und Gestik und sogar eine „Sprachausgabe“ und sie können mitunter auch ihre Vorstellungsbilder anschaulich beschreiben, wodurch man zumindest in etwa ein „inneres“ Bild sichtbar machen kann. Auch aus der Beobachtung des Verhaltens von Menschen, Verhaltens-Experimenten oder Gesprächen kann man zwar nicht eindeutig auf die Beschaffenheit der Software schließen, erhält aber dennoch brauchbarere Hinweise auf ihre Funktionsweise als über das Messen der Hardwareaktivität.

Heute scheinen viele Menschen zu glauben, dass Messmethoden jedoch grundsätzlich irgendwie wissenschaftlicher sind als Beobachtung von Verhalten, Verhaltens-Experimente oder Gespräche etc. Das ist aber ein Trugschluss. Denn Messen macht etwas nicht wahrer und hat auch darüber hinaus einige entscheidenden Nachteile:

  • Reliabilität: Man weiß nicht, ob man richtig, z.B. exakt genug oder auch unexakt genug misst. Je gröber man z.B. die „Auflösung“ im fMRT (ein Verfahren, das die Hirnaktivität in bunten Bildern darstellen kann) wählt, desto deutlicher zeigt sich die Aktivität. Stellt man das Gerät feiner ein, tendiert die Aussagekraft nach den Kriterien der Signifikanz Richtung null.
  • Validität: Man weiß nicht, ob man das Richtige misst. Schon heute gibt es z.B. Zweifel daran, ob der Ort, der im Gehirn aktiv ist, überhaupt so entscheidend ist für die Erkenntnisse über das, was im Gehirn gerade passiert. So weist der Neuropsychologe Ernst Pöppel darauf hin, dass z.B. die sog. Inselrinde im Cortex je nachdem, was man in einer Studie misst, mal für negative Emotionen, ein anderes Mal für Körpergefühl, Aufmerksamkeit, Begierde oder auch Zeitgefühl verantwortlich ist. Auch der Aufenthaltsort des Gedächtnisses entzieht sich beharrlich der Entdeckung.
  • Relevanz: Vor allem ist aber die Frage wichtig, wie viel an Erkenntnis man gewonnen hat, wenn man heraus gefunden hat, dass die Grafikkarte aktiv ist, aber nicht weiß, welches Bild sie gerade mit welchen Softwarefunktionen bearbeitet. Zeigt die Hirnregion „Amygdala“ hohe Aktivität, weiß man nicht, ob es bedeutet dass der Mensch lacht oder weint, sondern nur, dass irgendwie (vermutlich) irgendwelche Emotionen ihr Unwesen treiben. Gemäß der Studien von Paul Ekman sind die meisten Menschen in der Lage aus der Mimik ihres Gegenübers spontan zumindest die 7 “basic emotions” (Trauer, Zorn, Überraschung, Angst, Ekel, Verachtung, Freude) zu entziffern und das international. Die eigenen Sinne sind hier also die besseren, relevanteren Messwerkzeuge.

Ein ähnliches Relevanzproblem hat man übrigens mit Messmethoden, die nicht die Hirnaktivität messen, sondern z.B. die Pulsfrequenz. Man weiß dann zwar, dass ein Mensch gerade aufgeregt ist, aber über was er sich genau aufregt und ob er positiv oder negativ aufgeregt ist, weiß man nicht. Für medizinische Zwecke macht es sicher Sinn, den Blutdruck zu messen oder den Blutzuckerwert. Es sagt aber nichts über die Software, also die Psychologie, das Denken und Fühlen und über die Beweggründe des menschlichen Verhaltens aus. Mit den Messmethoden der Hirnforschung reicht man oft nicht einmal an die Erkenntnisse heran, die man mit der normalen menschlichen Wahrnehmung ermitteln kann (siehe oben: basic emotions). Erkenntnisse aus der Hirnforschung, die bei der konkreten Konzeption und Umsetzung von Marketingmaßnahmen oder Werbedesigns helfen, sind daher höchst unwahrscheinlich.

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Wenn die Vertreter des Neuromarketing behaupten, die Psyche des Menschen endlich entschlüsselt zu haben (wohlmöglich den „Kaufknopf“ gefunden zu haben), scheint dies also keine rationalen Gründe zu haben, sondern eher mystische, oder – wie man im Neuromarketing sagen würde – vom Autopiloten gesteuert zu sein.

Experimente, Erkenntnisse und Theoriebildung

Messen, Beobachtung, Experimente etc. sind aber nur ein Teil der Erkenntnissuche, sozusagen die Vorskizzen oder das Rohmaterial. Erst wenn aus dem Rohmaterial eine Theorie entwickelt wird, welche die einzelnen Informationen aus der Forschung zusammenbringt, kann man von einer Erklärung sprechen. Eine Theorie erklärt, wie die einzelnen Erkenntnisse miteinander verbunden sind und was sich daraus ableiten lässt. Sie ist keine Wahrheit, sondern ein Erklärungskonstrukt, das möglichst plausibel aus den Forschungserkenntnissen abgeleitet wird. Erhält man aus weiteren Forschungen andere, differenziertere und gar widersprüchliche Erkenntnisse, muss die Theorie angepasst, verfeinert oder sogar verworfen werden, will man sie nicht zu einem Dogma erheben.

Dabei ist es unerheblich, ob die Erkenntnisse durch Messen, Beobachtung, Experimente etc. ermittelt wurden. Die Theoriebildung beruht immer auf einer Interpretation, Verknüpfung und Bewertung der z.B. Relevanz der Erkenntnisse und einem daraus gebildeten Erklärungskonstrukt. Schon Auswahl und Aufbau der Experimente oder anderer Forschungssettings sind oft von der zugrundeliegenden Theorie / Erklärungsmodell beeinflusst. Manchmal unterscheiden sich die verschiedenen Betrachtungsweisen in der Psychologie weniger durch verschiedene Einzelerkenntnisse, als mehr durch die Theorie, die aus diesen gebildet wird. So wird dann auch nicht selten dasselbe Ergebnis einer Forschung nur anders erklärt.

Ohne die Theorie bleiben die Erkenntnisse jedoch einzelne Puzzleteile auf einem Haufen, bei denen sich kein Bild erkennen lässt. Manche theoretischen Erklärungsansätze sind komplex, differenziert und erschaffen eine ganz neue Sichtweise, auch auf alte Erkenntnisse, die dann in einem ganz neuen Licht erscheinen. Andere Theorien sind eher einfach oder besagen nur dasselbe, das schon andere Theorien besagt haben, nur in anderen Worten. Auch Neuromarketing hat eine Theorie. Meist werden die Forschungsergebnisse grob in das duale Modell vom Piloten (bewusst, explizit) und Autopiloten (unbewusst, implizit) eingeordnet. Die Behauptung, diese Theorie wäre neu und würde das Denken revolutionieren, trifft vielleicht auf Wissensdisziplinen zu, die bisher vom rein rationalen Handeln des Menschen ausgegangen sind (z.B. die Spieltheorie in der Ökonomie). In der Wissensdisziplin Psychologie ist dieses Erklärungsmodell jedoch schon sehr alt und darüber hinaus eher einfach – fast schon banal – wenig differenziert und eröffnet sicher keine völlig neuen Sichtweisen.

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Wenn ich weiter oben im Text nahe gelegt habe, dass die Messmethoden der Hirnforschung (Messung der Hardware) das Verhalten, Denken oder Empfinden (Software) überhaupt nicht in relevanter Weise erforschen können, möchte man einwenden, wenn man schon einmal etwas aus dem Neuromarketing gelesen oder gehört hat, dass es sich dabei doch um ganz konkrete Erkenntnisse zum menschlichen Verhalten handelt. Es werden sogar konkrete Empfehlungen für die Werbeentwicklung gegeben. Die Art der Erkenntnisse, die im Neuromarketing gegeben werden, scheinen sogar anderen psychologischen Erkenntnissen recht ähnlich zu sein. Das stimmt. Das ist aber auch kein Wunder, denn Neuromarketing speist sich nur geringfügig aus der Hirnforschung, sondern größtenteils aus den Erkenntnissen der „klassischen“ Psychologie, vor allem der Gestaltpsychologie, Sozialpsychologie, Verhaltensökonomie etc.

Die Erkenntnisse aus diversen psychologischen Theorien werden dann geschickt und teils recht fadenscheinig mit Erkenntnissen aus der Hirnforschung verknüpft – und sei es nur mit einem Hinweis dazu, an welcher Stelle im Gehirn z.B. die Mustererkennung stattfindet. Das „Wo findet die Mustererkennung statt“ erklärt zwar nicht, wie und warum Mustererkennung funktioniert, aber offenbar kann man darauf zählen, dass dies dem Zuhörer oder Leser gar nicht auffällt, weil vielleicht die Ehrfurcht vor Begriffen wie „Amygdala“ keine weitere Erklärung mehr bedarf. Das ist genau genommen so als würde man eigentlich etwas über die Funktionsweise eines Autos erfahren wollen und gibt sich dann mit der Antwort zufrieden: „30% der Autos stehen in der Garage, 70% auf der Straße“. Die Einzelerkenntnisse aus den Forschungen der „klassischen“ Psychologie werden dann so vereinfacht, dass sie sich mühelos in die eher banale Neuromarketing-Theorie (Pilot versus Autopilot) einpassen.

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Liest man in den gängigen Neuromarketing-Büchern auf jeder zweiten Seite diese magischen Begriffe aus dem Reich der Hirnforschung, hat man keinen Zweifel mehr daran, dass hier eigentlich Erkenntnisse aus der Hirnforschung verraten werden, wurde doch auch oft genug erwähnt, dass die „gewöhnliche“ irgendwie primitive Psychologie erst durch die Hirnforschung so richtig revolutioniert wurde. Das verhindert, dass man sich vielleicht doch mal mit den „klassischen“ Theorien beschäftigt und dabei vielleicht feststellt, dass diese meist viel differenzierter sind und auch viel mehr in der Lage, eine neue Sichtweise auf das Verhalten, Denken oder Empfinden des Menschen zu geben. Das Neuromarketing reduziert die psychologischen Erkenntnisse auf eine denkbar simple Formel, garniert das Ganze mit Begriffen aus der Hirnforschung und fertig ist die große Revolution des neuen Denkens.

Auch die Behauptung, dass die Hirnforschung das mächtige Unbewusste (Autopilot) im Vergleich zum eher schwachen Bewussten (Pilot) bewiesen hat, während es zuvor nur vermutet wurde, ist zweifelhaft. Man konnte auch schon vor den Messtechniken der Hirnforschung mithilfe empirischer Experimente belegen, dass Menschen ihre Entscheidungen oft nicht aufgrund rationaler Überlegungen (oder überhaupt aufgrund von Überlegungen) treffen. Umgekehrt wurde jedoch noch nicht bewiesen, ob es „Bewusstes“ überhaupt gibt, oder es sich dabei nur um eine Illusion handelt, die uns unser „Ich“-Gefühl vorgaugelt. Schon der Versuch, alle anderen Forschungsmethoden als nicht beweiskräftig genug zu diskreditieren und nur der Hirnforschung die Fähigkeit, echte wissenschaftliche Beweise zu liefern zuzusprechen, hat schon ein manipulatives Geschmäckle.

Fazit

Bewiesen haben die Erfinder des Neuromarketings jedoch – das muss man ihnen zugestehen – dass man mit geschickten Formulierungen und Ausnutzen des magischen Glaubens an die Hirnforschung, erfolgreich Marketing betreiben kann. Diese Kompetenz kann man ihnen also nicht abstreiten und möglicherweise ist der Erfolg auch gerade darauf zurück zu führen, dass sie etwas Kompliziertes extrem vereinfacht haben. Der Pilot dankt es, wenn ihm nicht zu viel Mühe beim Nachdenken abverlangt wird. Ob vereinfachte Formeln aber helfen, wirkungsvollere Werbung zu gestalten, ist fragwürdig.

Tipp: Wenn Sie das nächste Mal etwas über Neuromarketing lesen, machen Sie einfach mal das Experiment und lesen alle Sätze, in denen etwas zur Hirnforschung steht, nicht mit. Sie werden vermutlich denselben Erkenntnisgewinn haben. Oder versuchen Sie sich nach dem Lesen daran zu erinnern, wie das nochmal genau war mit der Amygdala etc. Oder überlegen Sie, wie Sie einem anderen allein mit den im Text aufgeführten Erkenntnissen aus der Hirnforschung (also ohne die anderen Erkenntnisse, die aus der klassischen Psychologie stammen) erklären können, wie er konkret eine gute Marketingkampagne auf die Beine stellen kann. Die Absätze zur Hirnforschung sind meist so abstrakt und für eine konkrete Problemstellung so irrelevant, dass man sie sich kaum merken kann und allein mit ihrer Hilfe auch nichts erklären kann.

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