Kunst forscht
“Meine früheren Arbeiten hatten mich gelehrt, dass das künstlerische Schaffen eine Erkenntnistätigkeit ist, in der sich Wahrnehmen und Denken untrennbar vereinen. Ich konnte nicht umhin festzustellen, dass, wenn jemand malt, dichtet, komponiert oder tanzt, er mit seinen Sinnen denkt …” (Rudolf Arnheim, Gestaltpsychologe, 1974)
Künstlerische Forschung
Kulturforscher beobachten ihre Umwelt mit dem fremden Blick eines außenstehenden Forschers, befragen, führen Experimente durch, analysieren. Künstler beobachten ihre Umwelt mit dem fremden Blick eines Künstlers, stellen sich Fragen, experimentieren und analysieren mit Materialien, Formen und Farben. Warum ein Künstler – trotz dieser unübersehbaren Parallelen – nicht als Forscher gilt, liegt daran, dass er nicht mit standardisierten Methoden forscht, sondern seine ganz individuellen hat. Er operiert nicht auf der Grundlage einer fundierten Theorie, z.B. Psychoanalyse, Phänomenologie oder Systemtheorie, sondern nimmt eher eine unwissende, „naive“ Haltung ein. Seine Forschungsergebnisse beschreibt er auch nicht verbal mit vordefinierten Fachbegriffen, sondern gießt sie in ein eigenwilliges Kunstwerk, das die Erkenntnisse – sofern es gelungen ist – zeigt.
Den empirischen Wissenschaftskriterien genügt der Künstler mit seinem Vorgehen nicht, im Gegenzug kann er aber mit seiner eigentümlichen Art der Forschung eigentümliche Erkenntnisse hervorbringen, deren Aufspüren gerade durch die strengen Kriterien der Wissenschaftlichkeit behindert werden. Er kann z.B. Bekanntes in einen fremden Kontext verrücken, wie Erwin Wurm mit seinen „One Minute Sculptures“. Oder er verfremdet Form und Material wie Claes Oldenburg. Er schält das Wesentliche aus komplexen Alltagsdingen heraus, siehe den Artikel „Fremde Blicke“. Das gibt uns als Betrachter die Möglichkeit, unsere Welt in einem anderen Licht zu sehen und das Selbstverständliche zu hinterfragen. Dadurch wird aufgedeckt, was uns im gewohnten Umgang mit den Dingen verborgen bleibt.
Damit Forschungsergebnisse überprüfbar sind, macht wissenschaftliche Forschung Sinn. Da der Wissenschaftler mit seiner theoretischen Fundierung, standardisierten Methodik und Verwendung von vordefinierten Fachbegriffen jedoch bereits mit einer bestimmten Haltung auf die Dinge zugeht, begrenzt er seinen „naiven“ Blick. Eigentümliche Sinnhaftigkeiten bleiben ihm dadurch manchmal verborgen. Es liegt daher nahe, wissenschaftliche und künstlerische Forschung sinnvoll miteinander zu ergänzen, um von den Vorteilen beider Seiten zu profitieren. Das ist übrigens nicht neu, denkt man an Leoanardo da Vinci, der zwar vor allem als Künstler bekannt ist, aber mithilfe seiner zeichnerischen Fähigkeiten überwiegend Wissenschaft betrieben hat und zudem ein genialer Erfinder war.
Vorstudien
Was verstehen Menschen unter „Gesundheit“ in einer Kultur, in der sie gleichbleibend leistungsfähig bleiben sollen, also am besten weder krank noch alt werden dürfen? Sicher, gesund bleiben heisst auch Sport treiben, sich gesund zu ernähren, frische Luft … eine Kur, die all dies bietet, möchte man aber doch nicht machen. Morgens um 7 die erste Anwendung, da kann man auch gleich ins Büro. Zeichnet man gemeinsam mit den Befragten Bilder, z.B. Landschaften, die für „Gesundheit“ stehen, taucht in erstaunlicher Häufigkeit das Meer auf, bevorzugt die rauhe Nordsee.
Meer, das steht für Ebbe und Flut, natürliche Rhythmen. Kulturhistorisch betrachtet ist es ein Symbol für Neuanfang, Taufe, das Alte auflösen und neu geboren werden, das Alltägliche hinter sich lassen und sich selber wieder frei wie ein neu geborener Mensch spüren. Gesundheit heisst also: nach natürlichen Rhythmen leben, auch alt werden dürfen, das alltägliche Einerlei im fremd bestimmten Hamsterrad aufzulösen und einen neuen Sinn für sein Leben zu entdecken.
In unserer Forschungsstudie zum Thema „Gesundheitstourismus“ haben wir wissenschaftliche und künstlerische Forschung miteinander verknüpft. Die Zeichnungen aus den Interviews mit den Befragten haben den Charakter von künstlerischen Vorstudien. Streng genommen arbeiten wir hier noch wissenschaftlich, indem wir die Phänomene über eine projektive Fragestellung, Gesundheit projiziert auf Landschaft, erheben. Sie werden jedoch nicht verbal protokolliert, sondern visuell. Projektives Fragen geht jedoch bereits schon in die Richtung eines künstlerischen Blicks, da der Untersuchungsgegenstand „Gesundheit“ in den Kontext einer Landschaft verrückt wurde. Das kann bereits dazu beitragen, die Eigentümlichkeiten der Vorstellungen von Gesundheit besser zu verstehen.
Umständliche Kunst – künstlerische Bearbeitung der Typen
Trotz aller entdeckter Gemeinsamkeiten, ließen sich die Befragten der Studie nicht in eine einzige Schublade stecken, bezogen auf ihre Vorstellung von Gesundheit und ihren Umgang mit dem Kulturdiktat, am besten bis ins hohe Alter gesund und jugendlich leistungsfähig zu bleiben (siehe unten und siehe verlinkte Studie). Mit den verschiedenen „Umgangs-Typen“ wurde jeweils ein gemeinsames Gruppen-Plakat entwickelt, ein fiktives Wunsch-Werbeplakat, mit dem sie selbst für einen attraktiven Gesundheitsurlaub werben würden. Um die – schon in diesen gemeinsamen Plakaten sehr unterschiedlichen – Vorstellungen der „Umgangs-Typen“ von einem gelungenen Werbeplakat auf ihren Wesenskern zu bringen, wurden die Motive und der Stil der Plakate künstlerisch weiter bearbeitet, in Acryl auf Leinwand. Die von den Befragten erstellten Plakate dienten hier, analog zu den Vorskizzen aus den Einzelinterviews, als Rohmaterial. Sie werden verdichtet, die Szenerie verändert, in einen anderen Kontext gerückt, etc.
Eine Gruppe, die von uns „Selbstoptimierer“ getauft wurde, unterstellte sich dem Kulturdiktat. Sie trieben Leistungssport, ernährten sich z.T. von speziellen Eiweispräparaten und setzen alles dran, den eigenen Verfallsprozess aufzuhalten, was ihre extreme Angst vor dem Altern offenbarte. Das von ihnen gestaltete Werbeplakat zeigt einen Körperkult, der an die Olympia-Fotos von Leni Riefenstahl erinnert. Ein Foto von ihr diente daher als Vorlage für das Gemälde. Man selbst als Selbstoptimierer sieht sich als Konglomerat von Muskelpartien, deren fleischliche Qualität es stetig zu verbessern gilt, Filet statt Bauchspeck.
Der Rückgriff auf Leni Riefenstahl und das Hinzufügen des “Fleischrasters”, wie es als Aushang in Metzgereien bekannt ist, sind hier die künstlerischen Bearbeitungselemente, die den Umgang der “Selbstoptimierer” mit dem Thema “Gesundheit” mit den Mitteln von Assoziation und Übertreibung künstlerisch verdichten.
Anders der Typ „Unzufriedener“. Krankheit ist für ihn sein fremdbestimmter Alltag im Hamsterrad, in dem er sich so gefangen fühlt, dass ihm als gesunde Alternative zu seinem Leben auf dem Werbeplakat nur die Idee eines diffusen „grün“ einfiel. Künstlerisch ins Extreme gezogen, bleibt eine schäbig grau-braune, triste Hamsterrad-Tapete. Das Motiv des “Hamsterades” wurde aus dem Rohmaterial übernommen und durch Verrücken in den Kontext eines sich ständig wiederholenden Tapetenmusters künstlerisch verfremdet.
Die depressivsten unter den Typen, die „Ausgebrannten“, die in ihrem Alltag völlig überlastet sind, Erfahrungen mit schweren Krankheiten und Tod zu ihrem täglichen Leben gehören, erwiesen sich erstaunlicher Weise als die Humorvollsten. Galgenhumor, der bleibt, wenn man sich bereits wie ein dummes wehrloses Schaf mit seinem Schicksal abgefunden hat, „Zumba“-Tanzen mit Gevatter Tod. Der comic-artige Stil und die Schafe sind aus dem Werbeplakat übernommen worden und künstlerisch mit Hinzufügen des Todes neu arrangiert worden.
“Umständliche Kunst” nimmt ihr Rohmaterial aus den wissenschaftlich durchgeführten Befragungen. Die im Dialog mit den Befragten erstellten Skizzen haben eine ähnliche Funktion wie künstlerische Vorstudien. In der künstlerischen Analyse, die immer gleichzeitig ein Experimentieren ist, wird das Rohmaterial mit dem “naiven” Blick und künstlerischen Verfahren (verrücken, verdichten, etc.) zu einem Erkenntnis-Bild/Objekt weiter verarbeitet. Auf diese Weise wird die wissenschaftliche Forschung mit der künstlerischen Forschung eng verknüpft.
Umständliche Kunst – künstlerische Bearbeitung des Kulturideals
Unsere Studie deckte ein Kulturideal auf, das für den Einzelnen zum Diktat wird: “Du sollt immer gleichbleibend leistungsstark sein und darfst nicht alt und krank werden”. Für das Älterwerden gibt es kaum positive Vorbilder in unserer Kultur. Es gilt als Manko, das eigentlich abgeschafft werden müsste. Man färbt sich die grauen Haare, lässt sich liften, versucht jugendlich schlank und fit zu bleiben. Im Roman von Oscar Wilde “Das Bildnis des Dorian Gray” erreicht der Hauptprotagonist Dorian dieses Ziel, indem er ein Bild von sich malen lässt und einen Pakt mit dem Teufel eingeht, sodass fortan das Bild altert und Dorian jung bleibt. Im Verlauf der Geschichte bewirkt dieser Eingriff in den natürlichen Alterungsprozess, dass Dorian zum Mörder, zum Monster wird.
Unsere künstlerische Bearbeitung des kulturellen Grundthemas der Studie ist noch nicht abgeschlossen (inzwischen ist das Projekt abgeschlossen, siehe Link nächste Zeile) . Die künstlerische Idee ist, das Bildnis des Dorian Gray quasi umzukehren. Wir erstellen ein Ganzkörper-Selbstportrait in Originalgröße (Leinwand: 1 x 2 Meter) von uns, auf dem wir etwa 30 Jahre älter sind als heute, in stolzer Pose und mit Falten, in die die Weisheit der Lebenserfahrung eingeschnitzt ist und nicht der körperliche Verfall. Es geht darum, ein positives Bild des eigenen Älterwerdens zu kreieren, um damit unserer unaufhaltsam drohenden Vergreisung ein Stück weit den Schrecken zu nehmen.
Der künstlerische Prozess liegt hierbei mehr in der Vorbereitung, der zeichnerischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden, als im vollendetem Werk: Anstatt Falten zu glätten oder mit Schminke zu retuschieren, werden sie bewusst hinzu gefügt. Wir planen einen Workshop, bei dem die Teilnehmer ebenfalls ein Bild von sich malen, das sie 30 Jahre älter zeigt.
Entlarvendes Kunstwerk (ein Kunstwerk, dass zufällig nachträglich zu den Ergebnissen einer anderen Forschungsstudie passte)
Brauchen wir keine Entspannung mehr, wenn wir allabendlich den Tag vor dem Fernseher ausklingen lassen? Es kommt zunehmend in Mode, sich neben dem Fernsehbildschirm noch mit einem „Second Screen“ auszurüsten, Tablet oder Smartphone, um während des Fernsehens aktiv über die Ereignisse im Dschungelcamp mit anderen Zuschauern zu chatten oder auf der Suche nach Deutschlands Superstar per Voting mitzuwirken. Was im krisengeschüttelten Europa vor sich geht, versteht man schon lange nicht mehr, geschweige denn hat man das Gefühl, man könne irgendwie darauf einwirken. Da tut es gut, wenigstens zu klicken, seine Ansichten zum Verhalten der Dschungel-C-Promis einbringen zu können. Irgendetwas selbst in der Hand zu haben, wird geradezu zur Notdurft, um sich am Abend noch entspannen zu können. Auf das Weltgeschehen nimmt man dadurch natürlich nicht im geringsten Einfluss, aber die Unruhe, die aus der Ohnmacht des Nichtsbewegens erwächst, hat man erfolgreich behandelt. Zeigen die Spätnachrichten dann noch dasselbe wie die frühen, kann man für heute beruhigt ins Bett gehen.
In der Studie zur Erforschung der Motive von Second-Screen- Nutzung haben wir ebenfalls mit vielen Zeichnungen im Dialog mit den Befragten gearbeitet, die uns bei der Analyse sehr hilfreich waren (einen Eindruck davon erhält man im Vortrag zur Studie). Wir haben aus den Zeichnungen jedoch kein Kunstwerk weiter entwickelt. Uns fiel auf, dass es dieses Kunstwerk schon gab. Ich hatte es schon einige Zeit vor der Studie kreiert:
Der Kippklotz. Man bewegt etwas, wirkt ein, indem man auf den Knopf drückt, verändert aber gar nichts. Sobald man los lässt, kippt der Klotz in seine Ausgangslage zurück. Ein Smartphone macht mit seinen vielen Tasten und unzähligen Apps Glauben, man würde mit seiner Bedienung wichtige und manigfaltige Funktionen anstoßen. Geschnitzt in Holz und reduziert auf einen Scheinknopf deckt der Kippklotz auf, dass man eigentlich gar nichts bewirkt, auch wenn einem der eigene Tastsinn das Gefühl gibt, etwas zu bewegen.
Wissenschaft trifft Kunst
Künstlerische Forschung kann wissenschaftliche Forschung nicht ersetzen, auch nicht teilweise. Sie kann aber ergänzend dazu beitragen, die Phänomene in ihrer Eigentümlichkeit zu entdecken und die Forschungsergebnisse zu verdichten. Indem Kunst die Dinge mit einem offenen, „naiven“ Blick betrachtet, sie in einen anderen Kontext rückt, auf das Wesentliche schrumpft, verfremdet und in anderer Weise der ihr eigenen künstlerischen Verarbeitung unterzieht, befreit sie die Dinge von ihrer Selbstverständlichkeit und macht die Sicht frei auf versteckte Sinnzusammenhänge. Was in der Freudschen Traumdeutung die Mechanismen des Unbewussten sind: Verschiebung, Verdichtung, Verfremdung, etc., verwendet der Künstler bewusst und experimentell als Forschungsverfahren und schlägt damit das Unbewusste quasi mit seinen eigenen Waffen. Ein weiterer Vorzug der Kunst ist ihre Anschaulichkeit, mit der sie dem Betrachter die Ergebnisse nicht nur auf einen Blick als Ganzes zeigt, sondern sinnlich erlebbar macht, das Kunstwerk als eigenes Ding dem Betrachter körperlich gegenüber tritt und einen Dialog fordert.
Die Möglichkeiten der Verknüpfung von Forschung und Kunst werden viel zu selten genutzt. Es beschäftigen sich aber inzwischen auch andere mit dem Thema. Einen interessanten Beitrag dazu haben wir kürzlich erst im Blog Mafolution entdeckt.
„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar.“ (Paul Klee, Maler)
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