Von Beamten, Ballerinas und einer Schildkröte
Erfahrungsbericht
Lesezeit: 5 Minuten
„… ich hatte heute Vormittag gelernt, dass man Personen oder Figuren, die einem erscheinen, ansprechen soll. Daher fragte ich die Schildkröte, wer sie sei. Sie zuckte aber nur mit den Schultern. Schade. Also ging ich weiter, in den langen Flur hinein, aber aus den Türen kamen Finanzbeamte mit einem Klemmbrett. Sie versperrten mir den Weg, da sie kreuz und quer über den Gang liefen. Dann gesellten sich Ballerinas dazu, die grazil und synchron tanzten. Die Beamten begannen dann, mit den Ballerinas zu tanzen. Am Ende bildeten beide Gruppen gemeinsam eine Gasse und machten eine tiefe Verbeugung, so dass ich weitergehen konnte. Ich schaute neugierig hinter die Türen, ich sollte ja alles erkunden und mir genau anschauen. Aber dort waren nur langweilige Büros, die mich ein wenig an den Film Brazil erinnerten. Ganz am Ende war eine Tür, hinter der ein Zimmer lag, das offenbar noch nicht fertig renoviert war. Eine Holzleiter stand in der Mitte – die sollte da aber offenbar stehen bleiben, weil sie hübsch mit Efeu dekoriert war – und in der Ecke stand ein Eimer mit Alpina-Weiß. Allerdings hatte ich keine Lust zum Renovieren und schaute mich um. Mir fiel eine Falltür im Boden auf, die ich öffnete. An der Seite lief Wasser nach unten und bildete eine Art Strickleiter aus Wasser. Erst traute ich mich nicht hinunter, vergewisserte mich dann aber, dass die Leiter stabil war. Unten war ein kleiner Springbrunnen, aber so ein kleiner und popeliger, der mich an spießige Vorgärten erinnerte. Enttäuscht stieg ich wieder hinauf.
Der Nachbarraum war deutlich spannender. Überall standen, lagen und hingen Uhren, die durcheinander tickten wie bei Meister Hora. Eine Pendel-Uhr an der Wand mit einem übergroßen Zahnrad lief rückwärts. Überall lagen Bücher herum, die aber nur zur Hälfte beschriftet waren. Ich überlegte, was ich tun kann. Ich begann die Uhr abzuzeichnen, woraufhin sie sich langsam in Nichts auflöste. Später schaute ich noch einmal in den Kellerraum mit dem Springbrunnen, ich hatte ja noch etwas Zeit. Leider war alles unverändert, immer noch so ein enttäuschendes Rinnsal…“
Soweit ein kleiner Auszug einer Imagination einer hier nicht näher benannten aber mir nahestehenden Person. Wir wollen auch nicht weiter ausführen, was der Kursleiter, ein Psychoanalytiker, aus den Bildern herausgelesen haben wollte. Auch will ich nicht weiter ausführen, was mir auf der weiß-grünen Hängebrücke passiert ist, die über den Nebel führte und an dessen Seilen kleine schwarze Fähnchen im Wind baumelten. Geschweige denn von den Geistern, die so schwer zu packen waren. Dabei weiß ich noch sehr genau, wie mir dieser kleine Fauxpas passiert ist, als ich versucht habe, sie anzusprechen. „Seid ihr die Geister der Vergangenheit?“ hörte ich mich sagen, doch wurde mir sofort klar, dass ich offenbar die Ich-Kontrolle zu sehr verloren hatte. Hallo, wir sind ja hier schließlich nicht im Traum. Suggestive Frage, ganz falsch, nicht nur im Interview. Daher fragte ich noch einmal ganz neutral nach: „Wer seid ihr?“
Ach so, Monika und ich haben gestern einen kleinen Ausflug in die klassische Tiefenpsychologie gemacht und waren auf einem eintägigen Seminar zur Aktiven Imagination. Weiterbildung soll ja nie schaden, heißt es. Die C.G. Jung-Gesellschaft in Köln bietet so etwas an.
Die Aktive Imagination ist ein Verfahren, das aus der Analytischen Psychologie kommt und von C. G. Jung entwickelt wurde. Für ihn ist die Imagination eine Möglichkeit, einen Dialog des Ich mit dem Unbewussten zu führen – in beide Richtungen: Man befragt sein Unbewusstes, und lässt sein Unbewusstes das Ich befragen. Klingt schwierig, war aber erstaunlich einfach. Man schließt die Augen und stellt sich – nach einer kurzen Entspannungsphase – ein Tor vor, durch das man hindurch tritt. So gelangt man in seinen Imaginationsraum. Dort wartet man einfach, bis die ersten Bilder kommen, ganz von selbst. Dann kann man diesen Raum erkunden, auftauchenden Figuren Fragen stellen, oder sich befragen lassen. Es gibt noch ein paar andere, einfache Regeln zu befolgen, z.B. soll man keine Dinge tun, die man auch im richtigen Leben nicht tun könnte, z.B. fliegen. Was einem dort begegnet und was einem passiert, lässt sich nicht steuern, man kann aber jederzeit eingreifen.
Es war erstaunlich, wie leicht und schnell Bilder auftauchen. In einer halben Stunde passiert eine richtig spannende Geschichte, wie bei einem Computerspiel. Fühlt sich an wie ein Traum, man ist aber wach. Erinnert mich auch an die Experimente, bei denen man Menschen in einen Wassertank gelegt hat, in denen sie nichts sehen, hören oder fühlen konnten. Schon nach kurzer Zeit begannen sie zu halluzinieren. Unser Seelenleben kann gar nicht ohne Bilder.
War ein spannender Tag, irgendwie unterhaltsam. Man denkt sich ja nichts aus, sondern lässt das „Unbewusste“ machen. Wiederholen würden wir es aber wohl eher nicht. Es gibt Menschen, die haben Freude daran, sich zu erkunden, oder an sich zu arbeiten. Wir gehören wohl eher nicht dazu. Und ehrlich gesagt, so manchen Kinofilm finde ich dann doch spannender als das stümperhafte Spiel, das mein Unbewusstes inszeniert.
Apropos Kinofilme. Die sind zum Teil sicher gerade deshalb spannend, weil sie – umgekehrt – etwas in meinem Unbewussten zum Klingen bringen. In der Jungschen Psychologie gibt es ja auch das kollektive Unbewusste und die Archetypen. Erfolgreichen Filmen gelingt es, menschliche Ur-Erfahrungen, wie sie die Archetypen beschreiben, anzusprechen. Nicht nur Filme. Auch Ereignisse, Bilder oder Werbung. So wird dann auch für den Werbepsychologen ein Schuh draus.
Archetypen sind grundlegende Themen und Strukturprinzipien, die sich in Bildern und Symbolen zum Ausdruck bringen: Sie sind nicht diese Bilder selbst, sondern wirken sich gewissermaßen formal anordnend auf unsere Vorstellungsbilder aus. C. G. Jung entdeckte sie, nachdem ihm Ähnlichkeiten zwischen den Imaginationen seiner Patienten mit Bildmotiven in Mythen und Märchen aufgefallen waren. Auch in unseren Imaginationen gestern wimmelte es von archetypischen Motiven. Es gab Bilder für Ursprung und Quelle (Springbrunnen), Übergang (Brücken) oder die Zeit (Schildkröte, Uhren).
Die konkreten Bilder und Symbole als Ausdruck dieser an sich unanschaulichen Archetypen können sehr vielfältig sein, und sie sind auch kulturabhängig. Ein Beispiel: U.a. gibt es auch so komplexe Archetypen wie den „Helden“. Bei diesem Prinzip geht es um eine menschliche Ur-Erfahrung: Das Hinausziehen in die Welt, wo man geprüft wird, ggf. „durch die Hölle geht“, Mut und List entwickelt, um am Ende heil zu bleiben und sich weiterzuentwickeln Ein konkretes Bild für dieses Prinzip ist etwa die Figur „James Bond“. Je nach Zeitgeist und kultureller Befindlichkeit ist er mal arroganter Schnösel oder mal gebrochene Action-Figur. In der Werbung kann auch der Hornbach-Heimwerker das Helden-Prinzip verkörpern. Einer, der in die Welt hinauszieht (in den Baumarkt), mit den Tücken von Material und Werkzeug kämpft, je nach Begabung „durch die Hölle geht“, und – wenn er nicht aufgibt – am Ende stolz auf sein fertiges Werk blickt.
In einem Buch zur Wirkung von Design, das wir gerade schreiben, wird es jedenfalls ein ganzes Kapitel zu den Archetypen geben, mit zahlreichen Beispielen aus dem Design und aus der Werbung. Natürlich muss man das Konzept im Licht der heutigen wissenschaftlichen Psychologie sehen und in die heutige Zeit übersetzen. Was es mit meinen „Geistern der Vergangenheit“ jedoch auf sich hat, das muss ich jetzt nicht unbedingt weiter verfolgen. Vielleicht, wenn ich mal Langeweile habe, auf einer langen Zugfahrt, und mein Buch vergessen habe… dann lass ich mich stattdessen wieder ein wenig von meinem Unbewussten unterhalten.
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