Was darf Kunst?

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Beinahe tagtäglich werden wir mit Krieg, Leid und Tod in den Nachrichten konfrontiert. In aller Regel können wir solche Berichte und Bilder gut auf Distanz zu uns halten. Das Medium Fernsehen hilft uns dabei, weil es die Dinge einordnet, erklärt, erläutert, filtert, während wir bequem auf dem Sofa sitzen. Im Rechteck des 16:9-Formats und in den wohlvertrauten Ritualen im ewig gleichen Rahmen (der gleiche Sprecher, die gleiche Uhrzeit, der gleiche Ablauf) lassen sich auch Berichte über schreckliche Ereignisse gut ertragen. Was auch immer in der Welt passiert – danach kommt der Sport und dann das Wetter.

Die Kunst hat eine andere Aufgabe. Wenn sie sich solchen Themen annimmt, dann will sie gerade nicht, dass der Betrachter auf Distanz bleibt. Dann will sie aufstören, irritieren, etwas spürbar machen, manchmal weh tun. Das gelingt aber auch nicht immer. Gerade der White Cube eines Museums oder einer Ausstellung bietet uns ähnliche Mechanismen zur Distanzierung an wie es die Nachrichten tun. Exponate, die das Unschöne im Leben zeigen, lassen sich in den wohlvertrauten Ritualen im ewig gleichen Rahmen einer Vernissage (das Wort alleine klingt schon nach vornehmer Distanz) immer noch gut kunstgeschichtlich einordnen oder mit einer ästhetischen Brille betrachten. Es lassen immer noch gute Gespräche mit interessanten Leuten darüber führen, um anschließend an seinem Glas Wein zu nippen oder sich dem Buffett zu widmen.

Auf die Ausstellung, von der ich im Folgenden berichten möchte, trifft dies ganz und gar nicht zu.

Die Installation „each second“ der Kölner Künstlerin Marianne Lindow (die schon mehrhaft „Opfer“ eines KULTICK-Beitrags war) thematisiert den Krieg und das damit verbundene Leid der Menschen. Ein Leid, denen die Menschen z.B. aktuell in Syrien tagtäglich ausgesetzt sind, und das uns inzwischen offenbar noch nur wenig berührt und fast schon vergessen wird, wenn wir gewichtigen Menschen in den wohlvertrauten Ritualen im ewig gleichen Rahmen einer Talkshow lauschen, wie sie über „Obergrenzen“ und „sichere Herkunftsländer“ schwadronieren. Wie kann man wieder spürbar machen, was da vor Ort wirklich passiert – und v.a. die Distanz anprangern, die wir uns in unseren wohlvertrauten Ritualen angewöhnt haben?

Das Unheil nimmt seinen Anfang

Aber der Reihe nach: Ein Tag im September, es sind Offene Ateliers in Köln. Drei Tage lang sind auch die Ateliers des Quartiers am Hafen für Neugierige geöffnet. Das Quartier hat drei Etagen. Auch auf Etage 1 sind mehrere Ateliers geöffnet und hier liegt auch das Atelier von Marianne Lindow. Sie bewirbt ihre Ausstellung ganz harmlos als „audiovisuellmaterielle Installation“. Was mir – im Nachhinein überlegt – eine Warnung hätte sein müssen: Die Tür zum Atelier von Marianne ist geschlossen, sie sitzt auf einem Sofa auf dem Gang vor der Tür und bietet mir eine Taschenlampe an, sollte ich gewillt sein, mir die Ausstellung anzusehen.

Ich bin gewillt und betrete einen abgedunkelten Raum, in dem ab und zu ein Neonlicht kurz aufflackert. Dumpfer lauter Lärm, wie von Bombeneinschlägen, kommt von mehreren Seiten. Wenn das Licht den Raum kurz erhellt, sehe ich irgendetwas Metallisches, Spitzes herumstehen und herumliegen, und irgendetwas Weiches dazwischen. Ich bin neugierig und benutze die Taschenlampe. Das Weiche entpuppt sich als rohes Fleisch, das in rauen Mengen im Raum verteilt ist, an der Wand hängt und von diesen spitzen Dingern wie aufgespießt herunterbaumelt. Jetzt kann ich auch den Geruch einordnen, der mir unterschwellig gleich beim Betreten aufgefallen ist. So muss wohl auch ein Schlachthof riechen. Ich entschließe mich, nicht allzu lange hier drin zu bleiben.

Die Ausstellung lebt weiter

Von nun an nehmen die Dinge ihren Lauf. So passiert es – zwar unbeabsichtigt aber doch unvermeidbar – dass im Laufe des Tages und dann über Nacht das Fleisch im warm-feuchten Klima des Quartiers vor sich hinmodert. Aus dem dezent-süßlichen Duft der Verwesung wird zuerst langsam und dann immer schneller ein penetranter Gestank von verrottetem Fleisch. Aus der audiovisuellmateriellen Installation wird eine audiovisuellmateriellolfaktorische und schließlich nur noch eine olfaktorische. Monika versucht eine Besichtigung am 2. Tag und muss sofort würgen. Die Besucher werden gefühlt weniger. Im Nachbar-Atelier werden Räucherstäbchen abgebrannt (dort läuft eine Ausstellung mit Fotos, die in ehemaligen KZs aufgenommen wurden – der Geruch scheint hier weniger zu stören). Andere reagieren deutlich weniger gelassen – es gibt noch richtig böses Blut, das sich passend mit dem des Fleischs aus Mariannes Atelier vermischt.

Am dritten Tag jedenfalls – das Drama nimmt langsam ein Ende – sieht man die Künstlerin mit Putzlappen und literweise Essig im nun leeren Ausstellungsraum herumwurschteln. Etage 1 riecht jetzt nach Essig und das nicht zu knapp. Soweit zur Choreografie der Ausstellung.

Die „Kunstliebhaber“ auf der gepflegten Sekt-Vernissage am Prenzlauer Berg zu ärgern, ist sicher nicht schwer. Aber selbst Künstler (in den Nachbar-Ateliers) zu provozieren, Chapeau. Muss man erst mal hinkriegen. Wobei ich nicht weiß, wie ich reagiert hätte, wäre ich unmittelbarer Nachbar und würde womöglich auf den Besuch eines Galeristen warten – hier muss man der Fairness halber erwähnen, dass unser Atelier in den wohlvertrauten vier Wänden der ewig gleichen dritten Etage liegt und damit weit genug von den aus Etage 1 wabernden Duftmolekülen entfernt.

Man mag von dem Ganzen jetzt halten, was man will. Aber was Marianne mal wieder geschafft hat, das ist, jede Menge Fragen aufzuwerfen (und mich an die Tastatur zu bringen):

Was Kunst darf

Was darf Kunst? Darf sie schlicht alles? Darf Jonathan Meese auf der Bühne den Hitlergruß machen? Darf sich Joseph Beuys drei Tage lang mit einem Kojoten einsperren lassen? Darf sich der russische Performance-Künstler Pjotr Pawlenski den Mund zunähen und seinen Hoden auf dem Roten Platz festnageln? Wo sind die Grenzen?

Ein paar Tage nach der Ausstellung schreibt mir Marianne eine Email: Ja, Kunst dürfe schon alles, nur nicht töten und nicht zur Gewalt an anderen, insbesondere nicht an Kindern, aufrufen. Aber darf sie auch unbeteiligte Nasen malträtieren, also anderen Gewalt antun? Oder sind diese anderen hier Mitspieler – beschweren sie sich doch gewissermaßen darüber, dass sie sich diesmal nicht vom Geruch des Krieges und des Todes distanzieren können, wie etwa beim Konsum der Fernsehnachrichten? War das womöglich sogar die Intention der Künstlerin?

Wenn man fragt, was Kunst darf, dann muss man auch immer erst fragen, wann handelt es sich überhaupt um Kunst und wann nicht? Und wenn es Kunst ist, wann ist es gute Kunst? Die erste Frage ist vermutlich leicht zu beantworten: Eine Provokation nur um der Provokation willen ist zumindest aus meiner Sicht keine Kunst. Es sollte schon irgendeine und wie auch immer geartete Intention dahinterstecken, die mich als Betrachter oder Besucher auch irgendwie angeht – und hier geht es mich an (und schreibe sogar darüber).

Wann etwas gute Kunst ist, darüber lässt sich noch trefflicher streiten. Ich will es daher einmal so ausdrücken: Hätte das Fleisch nicht so gestunken und hätte die Ausstellung nicht diese dramatische Entwicklung genommen, wäre es mir persönlich zu plakativ, zu sehr Erlebnispark gewesen. So aber ist noch ein gelungenes Gesamtkunstwerk draus geworden, mit Räucherstäbchen, wütenden Nachbarn, Essig und allem.

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