Von Eulen und Lerchen

oder: Eulen im Lerchenland

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„Durchgefallen? Schule auf dem Prüfstand“ – so der Titel einer Folge des Wissenschaftsmagazins Leschs Kosmos im ZDF, in die ich kürzlich hineingeraten war. Es handelte davon, dass Jugendliche in der Pubertät zu Schulbeginn morgens um 8:00 Uhr noch gar nicht richtig wach und aufnahmefähig sind: Sie sind „Eulen“, d.h. ihr Schlaf-Wach-Rhythmus ist nach hinten verschoben – im Gegensatz zu jüngeren Kindern, die meist zu den „Lerchen“ gehören und schon morgens fit sind. Eine High School in den USA habe sich daher zu einem „ungewöhnlichen Schritt“ entschlossen (und dies muss wahrlich wagemutig gewesen sein) und hat den Unterrichtsbeginn von 8:00 Uhr auf 8:30 Uhr verlegt. Die Teenager waren daraufhin weniger müde, motivierter und aufmerksamer. Mir ging dabei nur durch den Kopf: Wie bitte? Auf wann wurde der Unterricht verlegt? Auf 8:30? Soll das ein Witz sein? Wenn ich um 8:30 Uhr irgendwo sein muss, dann bin ich jedenfalls zu nichts zu gebrauchen.

Vor nicht allzu langer Zeit gab es eine Debatte im EU-Parlament über die Abschaffung der unsäglichen Zeitumstellung – und allen Ernstes wird dabei nur über die Abschaffung der Sommerzeit gesprochen, und nicht über die der Winterzeit. Ja, was soll ich denn mit Sonnenlicht mitten in der Nacht? Im Juni in Köln wäre dann um 4:17 Uhr Sonnenaufgang, in Berlin schon um 3:42!

Die Zeitzonen sind ohnehin über einen großen geografischen Raum gemittelt (die Winterzeit ist daher nicht unbedingt „normaler“ als die Sommerzeit). Vor allem aber: Warum sollten wir uns als Kulturwesen überhaupt an astronomischen Berechnungen ausrichten? Mir ist ja auch egal, wo der Jupiter seine Bahn zieht oder welche Sterne in den Plejaden gerade kollabieren. Wir leben schon lange nicht mehr nach der Sonne. Wir sollten uns eher selbst fragen, ob wir Lebensqualität (=Sommerzeit) oder der Anpassung an die Arbeitswelt (=Winterzeit) den Vorzug geben. Warum nicht eine Doppelsommerzeit das ganze Jahr? Mir wäre es recht (gab es übrigens schon mal, 1945 und 1947, und nannte sich MEHSZ: Mitteleuropäische Hochsommerzeit: MEZ+2).

Mein Outing als Eule

Wie der Leser unschwer errät, gehöre ich offenbar zu den sogenannten „Eulen“. Auch wenn man sich die Uhrzeiten der Veröffentlichung der Artikel hier im Blog anschaut, da steht nie 8:30 Uhr und auch nicht 11:40 Uhr oder ähnlich unchristliche Zeiten. Da steht 19:04 Uhr oder 20:30 Uhr, oder auch mal 2:45 Uhr… und das ist auch gut so. Ja, dies zuzugeben, hat komischerweise etwas von einem Outing. Warum das so ist, davon soll dieser Text handeln.

Dabei hat der Chronotypus – so das Fachwort für den unterschiedlichen Schlaf-Wach-Rhythmus – vermutlich genetische Ursachen und ist nur schwer zu ändern. Er ändert sich mit dem Alter, wie das Beispiel der Kinder und Jugendlichen zeigt, und bei Erwachsenen gibt es individuelle Unterschiede, die sich in etwa normalverteilen, wie die Häufigkeitsverteilung der Chronotypen in der Bevölkerung zeigt (Quelle: Wikipedia / LMU Institut für Medizinische Psychologie, Zentrum für Chronobiologie):

Es gibt also keinen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund, wieso Frühaufsteher ein höheres Ansehen genießen und als irgendwie aktiver, frischer, leistungsfähiger gelten. Aber genau das ist der Fall in unserer Kultur: Eulen im Lerchenland. Dabei ist der Biorhythmus eben einfach nur verschoben, that’s it. Mag die Eule im Meeting um 9:00 noch müde aus der Wäsche schauen, so sind eben die Lerchen schon am frühen Abend nicht mehr sonderlich produktiv, während die Eulen zur Hochform auflaufen. Auch von Gottfried Wilhelm Leibniz und William Shakespeare sagt man, sie sollen vorwiegend nachts produktiv gearbeitet haben.

Eulen werden diskriminiert

Wenn man am frühen Morgen wochentags um 11:00 Uhr dem Paketboten im Bademantel die Tür öffnet, warum habe ich dann das Gefühl, ich gelte als Faulpelz oder Tagedieb und werde irgendwo zwischen Hartz 4 und Alkoholiker verortet? Wieso muss ich Ausreden erfinden, um ein Gespräch mit einem Kunden nicht um 9:00 Uhr führen zu müssen („da sind wir noch im Termin“ – haha)? Wieso bin ich so verdammt froh, dass unsere Telefonanlage über eine Rufweiterleitung verfügt, so dass mich Anrufe am Vormittag auf dem Atelier-Festnetz auf dem Handy erreichen? Neulich schlug ein Kollege noch vor, dieses „wichtige Gespräch“ führe er doch lieber mit „frischem Kopf“ am Morgen. Ja, warum muss ich da eigentlich nachgeben, warum nicht mit frischem Kopf am Abend?

Man kann also mit Fug und Recht von waschechter Diskriminierung sprechen. Schaut man auf die Verteilung der Chronotypen im Diagramm oben, dann fällt auf, dass sogar mehr Menschen zu den Eulen gehören als es Lerchen gibt. „Bei Licht betrachtet“ scheint also die Kultur auf weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausgerichtet zu sein. Ist das nicht Grund genug zur Rebellion? Selbst von Sprichworten fühlt man sich diskriminiert, „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, „Morgenstund hat Gold im Mund”. Bei meiner Recherche habe ich übrigens eine Art Rebellen-Verein, quasi einen “Club der Eulen” entdeckt, mit dem Namen „Delta t – Verein für Zweitnormalität“ (ob man als Mitglied Anrecht auf einen Schwerbehindertenausweis hat, hat sich mir auf der Seite nicht erschlossen).

Kulturpsychologische Gründe

Dass die Arbeitswelt seit der Industrialisierung durch ihre Zeit-Gleichtaktung Lerchen bevorzugt, schön und gut und nachvollziehbar. Aber wieso steckt das so in unseren Köpfen? Wieso haben Spätaufsteher einen so schlechten Ruf und gelten als faul und unwillig? Geht es zurück auf Zeiten, in denen preußische Tugenden wie Fleiß und Disziplin hierzulande hochgehalten wurden? Oder auf noch frühere Zeiten, als der Bauer mit dem Krähen des Hahns aufstand, um die Kühe zu melken?

Um diese absurde Tatsache zu verstehen, muss man vermutlich noch viel weiter zurückgehen, bis in die Ursprünge der Kultur und der Menschheit, mindestens aber in die Tiefen der Mythologie: Lerchen leben bei Tag, im Licht, im Hellen – Eulen in der Nacht, im Dunkeln, im Schwarz. Die Nacht, das ist die düstere Welt der Gefahr und der Verbrecher, dunkel sind die Schatten, das Böse, nachts ist es schummerig, unheimlich, bedrohlich. In der Schattenwelt leben die Vampire, die das Tageslicht scheuen. „Die Moral sinkt mit der Sonne“ schrieb der Schriftsteller Hans Kasper, und Berthold Brecht bringt es in der Dreigroschenoper auf den Punkt (und kann als Allegorie auf Eulen und Lerchen gelesen werden):

„Denn die einen sind im Dunkeln
und die andern sind im Licht
und man siehet die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.“

Hier schwingt nichts Geringeres mit als uralte Archetypen von Licht und Schatten, von hell und dunkel, klar und trübe, gut und böse, Himmel und Unterwelt, Leben und Tod, Helene Fischer und Edgar Allen Poe. Die Kulturanthropologin Katharina Steffen hat Frauen interviewt, die nachts Taxi fahren (“Übergangsrituale einer auto-mobilen Gesellschaft”, Suhrkamp Verlag, 1990), und die davon berichten, dass die Welt nachts eine komplett andere ist als bei Tage. Die Wirklichkeit wandelt sich bei Nacht. Dinge, die man tagsüber sehen kann, verschwinden im diffusen Dämmer. Dafür tauchen im Kunstlicht andere Dinge aus der Nahwelt auf, näher, klarer und unwirklicher. Die Welt wirkt zerbrechlicher, unberechenbarer, unkultivierter (woran man wieder mal sieht, dass Wirklichkeit nicht einfach „da“ ist, sondern etwas von uns Hergestelltes): Eine fragile Zwischenwelt – zwischen zwei regulären, normalen, richtigen, klaren, hellen Arbeitstagen. Eben ein „Unterschied wie Tag und Nacht“. Man könnte statt von „Lerchen“ und „Eulen“ auch von „Lebenden“ und „Untoten“ sprechen.

Aber gibt es denn nicht auch positive, verheißungsvolle Seiten der Nacht, des Dunklen, des Eulen-Daseins? Und damit Ansätze für eine Rebellion oder gar eine Rehabilitierung des eulenhaften Nachtschwärmerlebens? Denn die Nacht, das ist auch die Zeit der Stille und Konzentration (z.B. klingelt nachts kein Telefon, denn die ganzen Lerchen, die schlafen dann brav). Die Nacht ist die Zeit der Kreativität (jedenfalls bei mir). Es ist die Zeit der geheimnisvollen Verwandlung, die Zeit der Anmut, die Zeit der Romantik, nicht zuletzt die Zeit der Partys. Das Schwarze, das Dunkle, das steht auch für Rebellion, Energie, Charisma, Exklusivität, Würde, Eleganz, Erotik, Souveränität und für Wahrheit. Nun ja, ob mir das jetzt hilft, wenn das nächste Mal morgens um 11 der Paketbote klingelt?

Falls sich übrigens noch jemand „outen“ möchte, der hinterlasse doch einen Kommentar unter diesem Artikel. Vielleicht mit einem passenden Hashtag. #owlsunited, #latetoo, was auch immer. Aber bitte nicht mit einer Antwort von mir vor Mittag rechnen!

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