Fußball WM: Spiel des Lebens
Psychologische Betrachtungen zur Fußball WM: Die WM als Lebensratgeber
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Neulich haben wir das Spiel Kolumbien gegen England gesehen. Achtelfinale. Ich war zunächst relativ leidenschaftslos und es war mir auch relativ egal, wer gewinnt. Im Laufe des Spiels habe ich aber immer mehr Sympathien für England entwickelt, nachdem Kolumbien v.a. durch unangenehme Fouls und gehässige Aktionen am Rande von Tätlichkeiten aufgefallen war, z.B. beim Kopfstoß des Kolumbianers Barrios gegen den Engländer Henderson oder der Zerstörung des Elfmeterpunkts durch Mojica. „Unfair“ durchs Leben zu gehen und „rücksichtsloses Verhalten“ soll doch schließlich nicht belohnt werden. Als es dann aussah, dass die Kolumbianer vielleicht doch weiterkommen, erwischte ich mich bei dem Gedanken, ja, vielleicht sollte ich auch in bestimmten Situationen im Leben auch einmal etwas agressiver und unfairer sein, zahlt sich vielleicht aus…
Wir sehen als Zuschauer nicht nur Mannschaften gegeneinander antreten, sondern Länder, Mentalitäten, Lebensmodelle und Lebenshaltungen – die wir unbewusst auf unser eigenes Leben beziehen, und auf das, was uns gerade bewegt. Dies tritt v.a. deshalb bei dieser WM deutlich zutage, weil wir nach dem frühen Ausscheiden der Deutschen nicht mehr mit der eigenen Mannschaft patriotisch mitfiebern können. Dafür betrachten wir die anderen Teams als Lebensbilder, als Haltungen, durchs Leben zu gehen. Lebensbilder, die paarweise gegeneinander antreten, die sich darin messen, welches sich gegen ein anderes durchsetzt. Schön in Reinform zu beobachten, da diese Kämpfe unter immer gleichen Bedingungen und Regeln stattfinden, und mit einem klaren Sieger. Die WM als Lebensratgeber.
Dadurch schauen auch Menschen weiter Fußball, die sich sonst wenig für den Sport interessieren. Gepackt werden sie durch existentielle Fragen wie: Setzt sich das Zaubern gegen das Arbeiten (im Leben) durch? Ist Einzelkämpfertum erfolgreicher als Teamspirit? Fällt man schneller auf die Nase, wenn man sich zu wichtig nimmt? Alles Lebensweisheiten, die wir (unterschwellig) mitnehmen:
- Bei der spanischen Mannschaft fragt sich der Zuschauer, wie weit man im Leben kommt, wenn man immer versucht, alles unter Kontrolle zu halten (Ballbesitzfußball), aber nicht bereit ist, etwas zu wagen (ist nicht erfolgreich, richtig so!)
- Vielleicht ist es erfolgreicher, wenn man dem Leben mit Fleiß, Ordnung und Höflichkeit begegnet wie die Japaner? Im Gedächtnis geblieben ist mir ein Foto aus der japanischen Kabine nach dem Spiel: Alles perfekt aufgeräumt, und zwar bevor die Putzkolonne kam (ist natürlich auch nicht erfolgreich, logisch)
- Was man auf jeden Fall als Lebensweisheit mitnehmen kann ist: Üben, üben, üben lohnt sich, selbst dann, wenn der Fluch des Versagens zentnerschwer auf einem lastet. Zu lernen am englischen Team, das nach Jahrzehnten der Schmach ein Elfmeterschießen gewonnen hat (ja, es klingt immer noch wie Fake News, ist aber wahr – und sie haben jetzt sogar einen Torwart, einen richtigen)
- Muss man überragender Einzelkämpfer sein, um es zu etwas im Leben zu bringen, und wenn ja, sollte man sich dann als Super-Held (portugiesisch) oder eher theatralisch und als tragischer Held (brasilianisch) inszenieren? Oder doch eher bescheiden und unprätentiös (argentinisch)?
- Wie weit trägt Willenskraft, Ehrgeiz, Kampfgeist und Unbeirrbarkeit, auch wenn man das nötige Können nur in Ansätzen mitbringt wie bei den Russen?
- Niedlich auch die isländische Lebenshaltung: Auch wenn man eigentlich klein und unbedeutend ist (und auch im Leben im übertragenen Sinne auf einem kargen Felsen lebt), wie weit kommt man, wenn man sich wild und archaisch gebärdet und seine Mitmenschen manchmal mit einem (liebevoll gemeinten) „Huh“ erschreckt?
- Kann man an Aufgaben wachsen, wie es die „Turniermannschaft“ Deutschland in vergangenen Turnieren bewiesen hat (in vergangenen Turnieren!)… und wann und wodurch scheitert man damit?
- Ja, überhaupt die Frage, welche Lebensweisheit nehmen wir von der deutschen Mannschaft mit? Vieleicht die Weisheit „Hochmut kommt vor dem Fall“? Marcel Reif erzählte kürzlich bei Markus Lanz, dass Oliver Bierhoff darauf bestanden habe, das Mannschafts-Quartier nicht im sonnigen Sochi aufzuschlagen, sondern in einem Plattenbau in der Nähe von Moskau – weil man dann für das Finale nicht mehr umziehen müsse
Die uninteressantesten Spiele sind daher (jedenfalls für mich) auch immer die, wo ich mit den Mannschaften kein richtiges Lebensbild verbinde (Belgien z.B., was zum Teufel ist eine belgische Haltung im Leben?).
Bei den Mayas ging es bei Ballspielen bereits vor 1500 Jahren um Leben und Tod – ganz so dramatisch ist es für uns Zuschauer heute nicht, aber um das Leben geht es immer noch.
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