Ichbinhier – oder wo bin ich eigentlich?
Meine Erfahrungen nach ein paar Wochen Mitglied in der Gruppe #ichbinhier und der Schwierigkeit, sich politisch zu positionieren.
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„Unsere nächste Aktion führt uns nach …“. Ich klicke den Link. Bundespräsident Steinmeier warnt in einer Rede, dass Demokratie nicht selbstverständlich sei und er appelliert, dass man sich zum Erhalt der Demokratie aufraffen müsse. Aber wenn man was gegen Flüchtlinge hat, die unsere Frauen vergewaltigen, kommentiert einer (Unsere? Wem gehöre ich?), dann wird man gleich in die rechte Ecke gestellt, und das sei auch keine Meinungsfreiheit. Der Islam gefährde unsere Demokratie. Der nächste postet ein animiertes Gif, wo sich jemand selbst gegen den Kopf schlägt. Och nö, schon wieder den Dreh zum Thema Flüchtlinge geschafft, bravo! … schreibt er dazu. „Ausländer raus“ hätte nun mal nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, schreibt jemand weiteres.
In der Kommentarspalte geht’s ja noch recht gesittet zu, oder wurden die Kommentare unter der Gürtellinie von der Moderation schon gelöscht, bevor ich hier angefangen habe zu lesen? Anders im Fall der Vergewaltigung einer jungen Frau in Freiburg von 9 oder mehr Tätern, 8 davon Syrer. Die neue furchtbare Verbrechensform der Massenvergewaltigung und Masseneinwanderung ginge auf das Konto von links-grünen Multikultis und Bärchenwerfern, schreibt da einer mit Doktortitel im Namen und „Wir“ – wer immer das ist – hätten davor immer wieder gewarnt. AfD und 263 andere finden das gut. Mit #ichbinhier fängt der nächste Kommentar an: Ja, eine furchtbare Tat und die Gedanken seien beim Opfer … aber was ein solches Verbrechen mit Multikulti zu tun habe und von Masseneinwanderung könne ja auch nicht die Rede sein … Ach, wieder diese #ichtrinkbier – Sekte, schreibt der nächste, und wäre das nicht jemand, der weiter oben im Diskussionsstrang fleißig gegen Migranten gehetzt hat und dass Merkel das deutsche Volk austauschen wolle, dann hätt ich das mit dem Bier noch ganz lustig gefunden.
Seit ein paar Wochen bin ich auch Mitglied dieser #ichbinhier-Sekte. Habe im Fernsehen einen Bericht darüber gesehen, mich dort in der Facebookgruppe beworben und bin aufgenommen worden. Die Idee kommt ursprünglich aus Schweden und es geht darum, solche politischen Diskussionen mit sachlichen Kommentaren zu dominieren, Fakten zu liefern, auf Fakes und Verschwörungtheorien zu reagieren und die Kommentare der anderen Mitglieder zu „liken“, damit sie bezüglich der Relevanz nach oben wandern. Um die Diskussionen zu finden, bei denen Hilfe zur Deeskalation benötigt wird, wird mit “Aktionen” und Link auf diese hingewiesen. Zur Meinung oder zur politischen Richtung, die man als #ichbinhier Mitglied vertritt, gibt es keinerlei Konsens. Einig ist man aber darin, dem Hass, der Häme und der Boshaftigkeit in solchen Kommentarspalten etwas entgegen zu setzen.
Manche sind auch nicht nur hier, sondern auch #mehr und #unteilbar. Ob irgendjemand in seiner Meinung umgestimmt wird, wenn er die #ichbinhier Argumentationen gelesen hat, ist fraglich, eher unwahrscheinlich, vielleicht stille Mitleser. Oft funktioniert aber das, was Aufgabe ist: Der Diskussionsstrang wird tatsächlich von seiner Gesamttonalität her abgemildert. Ab 20:00 Uhr beim „Absacker“ wird meist in der geschlossenen #ichbinhier Gruppe intern über Themen diskutiert. Es ist die Rede von Vergewaltigungswünschen, Drohungen und sexuellen Anspielungen, die man zuweilen in einem Shitstorm übergeschüttet bekommt und ob denn die anderen ihr Profil gut genug geschützt hätten. Hab ich nicht, bisher blieb ich jedoch unbehelligt. Ich bin aber auf Fb unter meinem Künstlernamen „Heinz“ vor meinem echten Namen unterwegs. Vielleicht reicht ja der Heinz, um mich zumindest vor Vergewaltigungsandrohungen zu schützen.
Szenenwechsel. Sie habe einen italienischen Pass, sagt sie mir im Interview. Sie wolle sich jetzt einen deutschen ausstellen lassen, sei ohnehin in Deutschland geboren. Jetzt hätten sie ja noch nichts gegen Italiener, aber wer weiß, ob nicht bald. Ich nicke und frage gar nicht, wen sie mit „sie“ meint, weil das klar ist. Eigentlich wollte ich mit ihr und den anderen Probanden nur über ihre Mediennutzung sprechen, wie oft sie welche Apps oder Medien nutzt und was sie damit genau macht und in welchen Situationen etc. Man müsse ja schon morgens, bevor man aus dem Haus geht, mal das Radio einschalten, um zu hören, ob irgendwo in der Nähe ein Anschlag war, sagt er zu seiner Mediennutzung. Aber sei das mit den Anschlägen wirklich mehr geworden? Er glaubt nicht. Ihm ginge es doch gut und die Bildzeitung mit ihrem Aufgebausche solle man doch am besten verbieten … nein, das ginge auch nicht, denn man wolle ja die Meinungsfreiheit erhalten. Überall höre man nur Flüchtlinge, sagt sie auf meine harmlose Frage, was sie denn so in Facebook macht. Aber sie habe noch nie einen Flüchtling gesehen.
Keiner, der nicht irgendwie besorgt wäre, besorgt über die Islamisierung des Abendlandes, oder – und das scheint die Mehrheit (scheint, denn wir haben nicht quantitativ geforscht) – besorgt wegen der Besorgten, die eine Stimmung verbreiten, als würde uns unsere demokratisch-liberale Gesellschaft jeden Moment um die Ohren fliegen. Trump, Brexit, Erdogan, Orban etc. tragen ihr Übriges dazu bei. Die Weltuntergangsuhr sei ja schon auf kurz vor zwölf. Nie fand ich die Umstellung auf Winterzeit so beruhigend wie dieses Jahr, denn jetzt ist es erst kurz vor elf. Steht der Zusammenbruch tatsächlich kurz bevor, oder ist hier eine Art Massenhysterie ausgebrochen? Letzteres ist nicht wirklich viel beruhigender, denn Massenhysterien haben sich in der Geschichte bereits als Auslöser von Zusammenbrüchen bewährt.
Szenenwechsel. Den ein oder anderen, der mir zu schräg mit irgendwelchen Geschichten zu armen Rentnern kam, die bei den Tafeln angeblich abgewiesen wurden, weil die Flüchtlinge bevorzugt wurden oder aus ihrer Wohnung raus mussten, weil da Flüchtlinge einquartiert wurden, habe ich unter meinen Fb „Freunden“ schon entfreundet. Dann meldet sich eine Grundschulfreundin über WhatsApp nach vielen Jahrzehnten bei mir. Nein, die wählt bestimmt nicht AfD, oder vielleicht doch? Auf Spiegel.online wird grad mal wieder das Flüchtlingsthema ausgeschlachtet. Ein kläglicher Versuch eines Kolumnisten, dazu aufzurufen, sich doch mal wichtigeren Themen zu widmen wie Bildung, Altersarmut, Wohnungsnot, statt nur den Flüchtlingsthematisierern hinterher zu hecheln … hat er „Flüchtling“ geschrieben? Ja, mit dem Appell, nicht mehr über Flüchtlinge zu schreiben, schreibt man leider auch über Flüchtlinge. Wie man es dreht oder wendet … schreibt man nichts darüber, ist man „Lügen-, oder Lückenpresse“ oder ignoriert unempathisch die Sorgen der Besorgten. Aus der Nummer kommt man gar nicht raus.
Ich würde das jetzt gerne analysieren, so mit psychologisch-rationalem Sachverstand. Die Abgehängten, Enttäuschten … denke ich und stelle gleich fest: Das ist nicht sachlich, sondern wertend! Vielleicht waren die auch immer schon da, haben nur nichts gesagt? Vielleicht bin ich auch selbst vom Multikulti-grünlinksversiffen Virus betroffen und Merkel, die jetzt allerdings ihre Abdankung verkündet hat, will tatsächlich das deutsche Volk austauschen? Ich bin einfach nicht mehr objektiv, denn ich war kürzlich in Bielefeld, obwohl es das gar nicht gibt. Ich bin also längst brainwashed! Elvis lebt!
Die Europäische Union, für die Gurkennorm und andere bürokratische Zumutungen verhasst und wegen der Bankenrettung, zeigt in der jüngsten Eurobarometer-Umfrage (Messung der Zustimmung zu Europa) von Oktober 2018 den höchsten Wert seit 25 Jahren (Link). Linke Politiker irritieren in Talkshows mit Aussagen darüber, wie gut es uns doch geht. Wer als eigentlicher Globalisierungskritiker dazu neigt, das Maß zu überziehen, findet jetzt das Freihandelsabkommen TTip vielleicht gar nicht mehr so übel, jedenfalls im Vergleich mit den Drohungen aus dem weißen Haus (oder Golfclub) bezüglich Einfuhrzöllen gemäß „America first!“. Putin, wer war das noch gleich? Auf #unteilbar kann man sich einigen, auch wenn jeder etwas anderes darunter versteht. Der Filmtitel könnte auch lauten: „Wie ich die schreckliche, komplexe, verwirrende, orientierungslose Vielfalt des globalen Multikulti-Lebens lieben lernte“.
Vortrag halten, aber bitte in Englisch, ist das nicht fast schon normal? Auch die sogenannten „hidden Champions“ der Wirtschaft sind international aufgestellt, auch wenn sie nur 60 Mitarbeiter haben, wie die deutsche Orgelmanufaktur Johannes Klais. In Wissenschaft oder Kultur ist es undenkbar, auf Internationalität zu verzichten. Willst du einen Trip zur ISS Raumstation wagen, die Startrampe gibt’s nur noch in Russland. Fragst du Künstler, Musiker etc. nach ihrer Heimat, dann ist es die Kunst, die Musik, aber kein geografischer Ort auf dem Globus. Was sind das für Sorgen oder gar schreckliche Ängste, die einen dazu bringen „Das Fremde“, ohne es genauer anzuschauen oder mitunter jemals kennen gelernt zu haben, als existentielle Bedrohung zu empfinden?
Die Antwort muss hier offen bleiben, denn wie ein Interviewteilnehmer sagte: „Ich verstehe das einfach nicht“. Ob man das verstehen muss, oder mit #unteilbarem Selbstverständnis einfach gegen halten und Europa toll finden, obwohl es seine Kehrseiten hat, Multikulti gut finden, obwohl es da auch kulturelle Verwerfungen gibt. Muss man z.B. als emanzipierte Frau, wenn man nicht zu den Islamhetzern gehören möchte, Vollverschleierung ok finden? Irgendwie muss man sich positionieren, ohne dabei die Vielfalt einzubüßen, positionieren im Komplex von Dies und Das, Sowohl-als-auch. Hauptsache kein simples „Wir sind gut und die sind böse“. Im “Alles ist möglich und jedem das Seine” ist es jedoch schwer, ein Ziel, eine Vision zu finden und damit eine Verheißung zu schaffen, die Anhänger findet. Das ist die neue Herausforderung. “Sie”, ihr wisst schon wen ich meine, haben hingegen eine Vision.
„Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.“ François-Marie Arouet (Voltaire)
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