Nutzhafte Dinge

Warum gibt es in unserer Kultur so viele nützliche – oder oft auch nur scheinbar nützliche –  Dinge und wieso ist “nützlich” ein gern gebrauchtes Verkaufsargument? In diesem Beitrag wird ein laufendes Kunstprojekt vorgestellt, das diese Nutzhaftigkeit, oder auch Nutzengläubigkeit unserer Kultur mithilfe künstlerischer Forschung erforscht (“Forschung” klingt jetzt etwas trocken, isses aber nicht!)
Lesezeit: 14 Minuten

Wie alles begann und seinen Lauf nahm

Die Kuchengabel-Revolution

So sollte es aussehen!

Da sitzt die Familie am Kaffeetisch mit lecker Kuchen. Was ich mal wieder nicht hatte: Kuchengabeln (dann halt normale Gabeln), Servietten (Haushaltsrolle tut’s auch) und anstelle eines Tortenhebers sorgt der Pfannenfreund für die nötige Funktion. Irgendwer in der Runde wird sicher wieder fragen: „Hast du denn keine Kuchengabeln?“ – den leicht vorwurfsvollen Blick dabei bilde ich mir sicher nicht ein – und jetzt wisse man ja, was man mir dieses Jahr zu Weihnachten schenken könne, haha… Improvisation scheint hier nicht als Ausdruck von Kreativität honoriert zu werden, sondern als eine Art Defizit.

Ich sag – wie immer in so einer Situation – dass ich so selten Kaffeebesuch habe, dass sich die Anschaffung von Kuchengabeln nicht lohnt und meine Schubladen eh zu voll sind (sag ich das nur so, oder ist es schon eine Rechtfertigung? … und wer sich verteidigt, klagt sich bekanntlich an). Das ist auch sinnlos, denn ich weiß, man legt mir das als Verweigerung aus: Jetzt ist sie schon so alt und rebelliert immer noch wie eine Jugendliche gegen die Gepflogenheiten der Kultiviertheit.

Viva la Kuchengabel-Revolution!

(ich muss an dieser Stelle bekennen, dass ich inzwischen – mit 52 Jahren das erste Mal in meinem Leben – Kuchengabeln besitze. Die wurden mir kürzlich beim Aldi vom Wühltisch geradezu optisch aufgezwungen und ich bin dem Kaufreiz – oder war es doch das Jahrzehnte-lange schlechte Gewissen (?) – erlegen!)

Allerlei Nützliches

Eierschneider von WMF

Weihnachten 2015 wollten wir wichteln (also keine Kuchengabeln) und zwar eher nützliche Dinge und weniger dekorative, die ja doch nur im Regal verstauben (doch Kuchengabeln?). Ich stöbere in den verschiedenen Abteilungen von Kaufhäusern. Besonders die Haushaltswarenabteilung hält viele nützliche Dinge bereit, z.B. ein Eierschneider. Da hab ich als Kind immer Harfe drauf gespielt. Kirschentkerner gibt es von verschiedenen Marken, auch in edlem Design von WMF. Ich überlege kurz: Wann hab ich das letzte Mal frische Kirschen gekauft (gibt es ja eher selten) und sie nicht einfach so gegessen, sondern entkernt und z.B. Kuchen draus gebacken … vielleicht handhaben andere das ja anders und es gibt mehr Kirschbäume in Gärten als ich vermute. Nach den Regeln von Angebot und Nachfrage müsste es jedenfalls eine Erklärung für das reichhaltige und vielfältige Angebot von Kirschentkernern in Haushaltswarenabteilungen geben.

Skizze Bananenschneider

Es gibt aber auch Plastikboxen in Bananenform (später im Internet fand ich auch noch Bananenschneider in Bananenform). Auch der Drogeriemarkt birgt interessante Exponate: Wimpernbieger, merkwürdige Werkzeuge, um der Hornhaut an den Füßen zu trotzen und andere Seltsamkeiten. Je länger man recherchiert, desto merkwürdiger wird es. Der eigene Blick ändert sich und plötzlich findet man auch Fliegenklatschen – selbst oft benutzt – höchst merkwürdig. Irgendwann entstand aus meinen Wichtel-Einkaufserlebnissen die Idee, meine Erfahrungen in Kunstwerke umzusetzen, um zu untersuchen, was es mit der Flut an nützlichen(???) Dingen auf sich hat. Irgendwie erschien es mir als ein besonderer Ausdruck unserer Kultur, Kirschentkerner, Wimpernbieger, Bananenschneider und … Kuchengabeln hervor zu bringen.

Nutzhaft statt nützlich

Ich suchte zuerst nach einem Begriff für Dinge, die man – zwecks Kultiviertheit – in unserer Kultur in der Schublade haben sollte (und bei passendem Anlass auf den Tisch decken), die zwar irgendwie – unzweifelhaft – einen Nutzen haben, aber eigentlich überflüssig sind. Ich kam dann auf „nutzhaft“. Laut Duden ist das zwar ein synonymer Begriff für nützlich oder nutzbar. Für mein Sprachempfinden aber passend. Etwas, das geisterhaft ist, erscheint wie ein Geist, ist aber keiner. Etwas Schleierhaftes hat gewisse Eigenschaften eines Schleiers, ist aber keiner. Nutzhaft könnte also dafür stehen, dass etwas als nützlich erscheint, aber eigentlich überflüssig oder sinnlos ist. So taufte ich mein neues Kunstprojekt: Nutzhafte Dinge

Drucks dir doch einfach!

3D Drucker in Aktion (I love my 3D Drucker!)

Nützliche Dinge unterliegen der Massenproduktion. Folgerichtig passte es nicht, künstlerische Einzelwerke zu entwickeln. 3D Drucker fand ich schon richtig, richtig cool, als ich das erste Mal 2012 einen gesehen hatte. Endlich hatte ich jetzt auch eine Rechtfertigung dafür, mir einen 3D Drucker zu kaufen. Der war jetzt nützlich! Zwar druckt er mitunter mehrere Stunden an einem Objekt. Von der Möglichkeit, Massen zu produzieren, bin ich also weit entfernt. Enthalten ist aber das Prinzip der Massenproduktion, bzw. die Verweigerung der Einzigartigkeit. Kopien sind – im Zeitalter der technischen 3D-Druck Reproduzierbarkeit – jederzeit möglich.

Ich habe auch schon die Druckdatei eines meiner Objekte in eine Facebook-3D-Druck-Gruppe verlinkt, weil hier Teilnehmer Interesse daran angemeldet haben und finde es passend, dass auch andere sich nach Belieben das Ding ausdrucken können (einschränkend sei hier angemerkt, dass die meisten meiner Werke bei den anderen nicht den Wunsch wecken, sie für den Eigengebrauch auszudrucken. Sie sind eben nicht nützlich, sondern nur nutzhaft, und dekorativ genug meist auch nicht). Die Druckdateien zu den Objekten finden Sie übrigens am Ende des Artikels.

Einordnung der bisher entwickelten nutzhaften Dinge in ein noch unvollständiges Nutzentypensystem, das mit der Dauer des künstlerischen Forschungsprozesses immer mehr Kontur annimmt

1. Das Gegenteil oder Wiedergutmachung

Ein Zimmermannshammer zeichnet sich dadurch aus, dass man mit ihm nicht nur Nägel einschlagen, sondern auch wieder heraus hebeln kann. Es gibt Maurerkellen, um etwas zu glätten, aber auch zum Aufrauen. Ein Prinzip im Nutzentypensystem ist also das Gegenteil, oder etwas, das in der Computerwelt so viel einfacher funktioniert: undo, if you made bullshit!

Dinge zum Platzsparen gibt es in verschiedenen Ausführungen: Stapelbare Stühle oder patentierte Kleiderbügel, die man herunter klappen kann und damit viel Platz im Schrank schaffen (wobei „Platzschaffen“ nicht der richtige Ausdruck ist, denn man könnte den Schrank ja einfach leer lassen. Es handelt sich eher um die Schaffung von Platzeffizienz bei ausufernden Modekaufwucherungen, von denen ich selbst weniger betroffen bin. „Den Pullover hast du schon vor 10 Jahren getragen“ höre ich die Verwandtschaft mäkeln …).

erste Version

Der Effizienz hat man ja schon ideell die Entschleunigung – oder auch soetwas wie „Work-Life-Balance“ – entgegengesetzt zur Wiedergutmachung (undo). Eine Wiedergutmachung des Platzsparens konnte ich jedoch nicht finden. Dieses Werkzeug fehlt also definitiv. So war die Idee geboren, einen Platzverschwender zu entwickeln.

Nützliche Dinge unterliegen dem unbedingten Gebot, dass sie auch funktionieren. Das gelingt nicht immer, sollte aber der Fall sein, um ihre Existenz zu berechtigen. Meine erste Version des Platzverschwenders war noch nicht funktional genug. Im Bücherregal platziert hätte man ein Buch oben drauf legen können. Also musste die Form so designed werden, dass alles was man versucht oben drauf zu legen, herunter rutscht. So entstand mein erstes nutzhaftes Ding.

Platzverschwender, auf den man auch nichts drauf legen kann, weil´s dann runter rutscht (erprobt!)

2. Analogie

Wenn man kleine Kinder hat, ist man besonders empfänglich für Dinge, die das Gewissen beruhigen, weil man vorsorglich alles richtig gemacht hat. Von wie vielen Kleinkindern hört man, dass sie verstorben sind oder ernsthaft verletzt und für alle Zukunft gezeichnet wurden, weil sie sich an einer Tisch- oder Regalecke gestoßen haben? Die sind eben auch nicht so blöd und haben außerdem vorsorglich weiche Knochen. Dennoch war es völlig fraglos, dass ich Eckenschützer gekauft habe (das Klebezeugs später wieder von den Möbeln abzubekommen, ist ein ganz anderes Thema). Aber was ist mit Ecken, die nach innen zeigen? Gibt es nicht auch Gründe, diese abzurunden?  Sicher, denn in solchen Ecken sammelt sich gerne Staub und man bekommt ihn dort auch relativ schlecht wieder weg (nicht dass ich eine Meisterin im Staubwischen wäre, aber man muss ja auch an andere Menschen denken, denen das wichtig ist). So war der Eckenabrunder (um Verwechslungen vorzubeugen “Eckenausfüller” genannt) für Innenecken geboren. „Hast du keine Ecke mehr, hast du auch keinen Staub mehr in der Ecke!“  (so könnte der Werbeclaim für das Ding lauten).

Eckenausfüller und wie man ihn benutzt

3. Serie / Sortiment

Wir haben auch so einen Holzblock mit verschiedenen Messern in der Küche stehen. Ich gebrauche sie selten, weil sie irgendwie nichts taugen, aber dekorativ ist so ein Block schon. Fährt man Campen, reicht in der Regel, wenn man 1 (in Worten: EIN) Allzweck-Messer dabei hat. In einem kultiviert geführten Haushalt gibt es aber eine wahre Flut von Messervariationen: Schälmesser, Schmiermesser, Brotmesser, Tomatenmesser, Steakmesser, Fischmesser, Fleischmesser, Käsemesser etc. Zur feinen Kultur gehört es eben, für alles ein spezielles Werkzeug zu haben. Ich habe lange nachgedacht, was im Sortiment noch fehlen könnte und dann den “Halbschneider” erfunden. Für Partys schneidet man manchmal die Baguette-Scheiben nur halb durch und schmiert dann z.B. Kräuterbutter hinein, die man im Backofen zerfließen lässt. Die Partygäste brechen dann den Rest ab – eine etablierte, lockere Partygepflogenheit.

Halbschneider Sortiment

Halbschneider in Aktion

Damit man erstens nicht versehentlich doch ganz durchschneidet und zweitens jeder Schnitt auch die exakt gleiche Tiefe hat, braucht man einen Halbschneider. Weil Baguettes verschieden dick sein können (die aus dem Aldi-Brotbackautomat sind z.B. ziemlich dünn), braucht man gleich ein ganzes Sortiment verschieden tief schneidender Halbschneider. Das sieht auch viel opulenter also hochkultivierter aus im Halbschneider-Holzblock, den ich dringend noch schnitzen muss.

4. Kultivierung einer Unart

Nasenhaarschneider gibt es. So weit ist hier der Weg zu Popelwerkzeugen nicht. Popeln ist natürlich ekelhaft und das Gegenteil von Kultiviertheit. Ähnliches gilt für das Säubern von Ohren, für das es jedoch Werkzeuge gibt. Ein edles und raffiniert durchdachtes Popelwerkzeug könnte aber das Zeug dazu haben, das Popeln kulturell zu adeln. Auch Schnuben sieht mit einem Stofftaschentuch mit Monogramm gleich viel besser aus. Ein Popelwerkzeug habe ich noch nicht erfunden, aber werde drüber nachdenken.

Designvariationen Eselsohrenknicker

Eine nicht ganz so ekelhafte Unart ist das Knicken von Eselsohren in Bücher. Es ist nicht ganz so verwerflich wie popeln, denn zeigt es doch, dass der Leser das Buch nicht einfach überflogen hat, sondern ernsthaft durchgearbeitet und sogar plant, zu einem späteren Zeitpunkt die wichtigen Stellen noch einmal nachzuschlagen. Feine Kultur ist das Eselsohrenknicken aber trotzdem nicht. Das ändert sich mit der Erfindung des Eselsohrenknickers.

Eselsohrenknicker Gebrauchsanleitung (als Foto-Roman)

Derart zeremonialisiert mit dieser kleinen mechanischen Maschine, wird das Knicken von Eselsohren zu einer Kulturpraktik, die dem Schreiben mit einer Füllfeder an Kultiviertheit um nichts nachsteht. Alle Eselsohren exakt gleich geknickt und richtig viel Mühe darauf verwendet, denn die Bedienung des Eselsohrenknickers ist schon recht umständlich und erfordert etwas Übung … wenn das nicht kultiviert ist!

5. Norm-Steigerung

Das deutsche Volk soll ja besonders ordentlich sein. Es gibt auch sehr viele Dinge, die beim Ordnen helfen: kleine Kästchen, Register, Schablonen etc. Doch was, wenn einem die gebotenen Ordnungshelfer noch nicht ordentlich genug sind? Dann kann man die Ordnungshilfe noch steigern. Der Geschirrausrichter sorgt nicht nur dafür, dass Teller, Gläser und Besteck beim Decken des Tischs auf jedem Platz denselben Abstand voneinander haben. Er hilft auch Tischdecker-Anfängern, die von einer Unkenntnis der angemessenen Platzierung und Ausrichtung von Ess- und Trinkutensilien betroffen sind. Der Geschirrausrichter macht deutlich kenntlich, wo Messer, Gabel und Löffel genau hin gehören. Neben Chinesisch, Geige und arithmetischer Algebra könnte man mithilfe des Geschirrausrichters auch schon Kleinkindern im Kindergarten beibringen, wie man einen Tisch perfekt deckt.

6. Norm-Auflockerung

Ordnung ist natürlich schon wichtig, vor allem, wenn man zu faul zum suchen ist. Aber Ordnung ist auch irgendwie spießig. Eine eher lässige Ordnung kann man mit dem Lässig-Ordner herstellen. Aus Gründen der Begrenztheit des Bauraums meines 3D- Druckers ist dieser Ordner für Visitenkarten geeignet. Man könnte ihn sich aber auch in größer für Din A 4 Mappen vorstellen (und man kann ihn auch ohne weiteres größer drucken, wenn man einen Drucker mit größerem Bauraum besitzt).

Ist das schon eine Revolution gegen die allgemeine Ordnungsnorm, oder eher das Gegenteil, ein Kompromiss, eine feige Anbiederung an die Ordnungskultur? Man kann es so oder so auslegen. Der Lässig-Ordner ist – zugegeben – auch nur grenzwertig nutzhaft, denn man kann darin tatsächlich ganz nützlich Visitenkarten aufbewahren. Daher war es wohl auch der Lässig-Ordner, der bei anderen 3D-Druck Freunden Anklang fand. Beim Ausloten von nutzhaft gegenüber nützlich ist das Streifen solcher Grenzbereiche jedoch unerlässlich – und wer weiß, vielleicht werde ich doch noch als Produktdesignerin groß raus kommen und dann auch mal Geld damit verdienen ;-)

Lässig-Ordner: ohne und mit Inhalt

7. Sichtbarmachung von unsichtbaren Phänomenen oder „Physikalische Mystik“

Ich gebe zu, dass ich fest daran glaube, dass ein Barometer tatsächlich den Luftdruck misst, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie es das macht und ob das Ergebnis der Messung den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht. Vielleicht ist es auch nur ein ebenso mystisches Ritual wie das Tragen von Amuletten. Die Anziehungskraft eines Magneten lässt sich beobachten, die Wirkung sonstiger Magnetfelder eher weniger. Auch W-Lan oder Strom wirkt, aber lässt sich nicht unmittelbar per Ansicht erkennen. Es gibt also Phänomene über die man Bescheid wissen muss, weil man sie sonst nicht bemerkt, da sie unsichtbar sind, unhörbar und auch keinen Geruch verströmen. Nützliche Dinge, die sich auf solche Phänomene beziehen – wie z.B. Barometer – beruhen meist auf physikalischen oder auch anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Raumkrümmer aus verschiedenen Perspektiven fotografiert

Der Raumkrümmer (Modell “Heisenberg”) ist auch ein solches Ding, aber nutzhaft statt nützlich. Er krümmt den Raum gemäß der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie (ist aber speziell und entspricht u.U. daher eher der Speziellen Relativitätstheorie). Gut, eigentlich krümmt jeder beliebige Gegenstand ebenso den Raum wie der spezielle Raumkrümmer. Aber dieser hat die alleinige Aufgabe, den Raum zu krümmen, sonst nichts. Das gibt ihm die besondere Wichtigkeit. Kultur ist auch immer ein bisschen Luxus (und er sieht doch auch sehr gut aus)! Bekommt man Blumen geschenkt, könnte man sie ja auch in einen Eimer oder sonstwo rein stellen. Das erfüllt den Nutzen ebenso. Man stellt sie aber in eine Vase, die nur dafür da ist, Blumen hinein zu stellen und für sonst nichts, also gemäß der Speziellen Schnittblumenaufbewahrungstheorie – das ist Kultur! (Ich besitze übrigens zwei Vasen. Eine hab ich mir für den – im Leben einer Frau – relativ oft vorkommenden Notfall gekauft, dass ich Schnittblumen geschenkt bekomme. Die andere wurde mir von meiner Mutter mit den Schnittblumen gleich mit geschenkt und dem Spruch: “Du hast doch bestimmt immer noch keine Vase”). Aber ich hab jetzt einen Raumkrümmer!

8. Der Umständlichkeit halber

Modell im 3D Programm

Zu dieser Kategorie zählen auch viele nützliche Dinge wie z.B. der Bananenschneider (siehe Skizze oben). Vermutlich besitzen die meisten Menschen keinen Bananenschneider und leiden wie stark unter diesem Defizit und wären bereit, sich zu verschulden, um sich endlich einen kaufen zu können? Eigentlich kann man sich nur vorstellen, dass Bananenschneider als Geschenk-Gag gekauft werden, um die Schränke anderer damit zu belasten. Letztendlich ist es nicht schwer, eine Banane mit einem herkömmlichen Messer in Stücke zu schneiden. Das geht auch recht schnell. Hingegen möchte ich nicht wissen, wie lange es dauert, einen Bananenschneider zu reinigen, zumal er auch viel Platz im Geschirrspüler verschwendet (vielleicht ist er ja eigentlich ein Platzverschwender).

Im Bereich von Dingen, die zwar irgendwie nützlich sind, aber die Tätigkeit eigentlich nur unnötig verumständlichen, lassen sich viele Ideen für nutzhafte Dinge entwickeln. Eine davon ist der Klosquartierer, der einen Kartoffelklos in 4 gleiche Teile zerlegt. Ein ausgeklügelter Mechanismus sorgt zudem dafür, dass man den klebrigen Klos aus dem Klosquartierer auch wieder heraus bekommt (an dieses Problem hatte ich erst gar nicht gedacht. Es geht doch nichts über mitdenkende Ehemänner!). Mit der Hand spülen möchte ich den aber auch nicht.

Fehl-Erfindungen

Echt jetzt, ich schwöre, der Kekshalter war eine originäre Idee von mir und ich dachte wirklich, ein Kekshalter wäre absurd genug, um nur nutzhaft und nicht etwa nützlich zu sein. Leider haben auch andere manchmal schon vorher dieselbe originäre Idee. Bei meiner nachträglichen Internetrecherche habe ich andere Kekshalter entdeckt. Allerdings hat meiner, auch weil er nicht einfach so lieblos an die Tasse gehängt wird, viel mehr Eleganz (und Schokokekse schmelzen bei den anderen Kekshalter-Erfindungen- geht gar nicht!)… Der Grat zwischen nützlich und nutzhaft ist schmal. Es gehört aber auch zur künstlerischen Forschung dazu, die Grenzbereiche zu identifizieren.

Kekshalter

Fazit: Das wilde Denken

Der Kulturforscher Claude Levi Strauss vertritt in seinem Buch „Das wilde Denken“, jedenfalls so wie ich ihn verstanden habe, eine interessante These. Aus political correctness schreibt man natürlich in der Kulturforschung schon lange nicht mehr von „PRIMITIVEN Völkern / Kulturen“ oder gar „Eingeborenen“. Dennoch hat man selbst – so als aufgeklärter Westeuropäer – sicher auch schon mal heimlich daran gedacht, wenn man z.B. einen Bericht zu solchen Völkern im Fernsehen gesehen hat: Die sind zu doof zum rational-logischen Denken mit ihren seltsamen Mythen, Ritualen und Regeln (wer es zugibt, dass er sowas schon mal heimlich gedacht hat, bekommt von mir ein 3D Ehrlichkeitssternchen zum Ausdrucken).

Untersucht man aber beispielsweise nach welcher Logik bestimmte Familien in besagten Völkern z.B. Essensverboten (dürfen bestimmte Nahrungsmittel nicht essen) unterliegen, offenbart sich ein hoch komplexes System, das eine ganz eigene – aber nicht weniger komplizierte und komplexe – Logik besitzt, wie das kulturelle Regelsystem, das wir für vernünftig halten (keine normalen Gabeln zum Kuchen und keine Haushaltsrolle statt Servietten!). Es ist also nicht „primitiv“, sondern nur eine andere Art von komplizierter und komplexer Logik, wie Strauss deutlich macht. Andere sind also nicht dööfer, sondern halten nur andere Regeln für vernünftig.

Weniger komplex sind im Vergleich zu diesen Essensverboten die Listen der Eltern, mit denen Erzieherinnen in Kitas konfrontiert werden, darüber was das Balg alles nicht essen darf (Gluten, Laktose etc.). Weiß man, dass es in Wahrheit kaum Menschen gibt, die tatsächlich unter einer Glutenunverträglichkeit leiden, fragt man sich schon, ob hier nicht deutliche Parallelen zu den Regeln bzw. der Definition von Vernunft der „Primitiven“ bestehen. Gehört man zu einer bestimmten „geistigen Familie“ von Eltern, unterliegen die Kinder ebenfalls – und zwar aus ebenso mystischen Gründen – bestimmten Essensverboten.

(da könnte ich jetzt auch aus dem Nähkästchen meiner Freundin – Erzieherin – plaudern, was passiert, wenn man sich in der Kita einfach nicht an die Verbote hält, weil einem das Kind so leid tut, weil es als einziges keine Fruchtzwerge essen darf und auf die Gefahr hin, dass man den Notarzt rufen muss, wegen lebensgefährdender allergischer Reaktion: nämlich gar nichts!).

Ebensolches könnte man für die ausufernden Sortimente scheinbar nützlicher Dinge vermuten und der „Kulturwissenschaft“, die daraus gemacht wird, wenn man als Kulturbeflissener wissen muss, wo neben dem Teller Messer und Gabel hin gehören oder welches Messer und welchen Wein man zu Fischgerichten serviert oder auf keinen Fall. Das macht dann auch die von Pierre Bourdieu besagten „feinen Unterschiede“ aus, an denen man Zugehörige verschiedener Gesellschaftsschichten („geistige Familien“) erkennen kann. Der Gesellschafts-Aufsteiger absolviert dann gerne ein Weinseminar, aber weiß nicht, dass das nichts nützt, weil man seine Hochstapelei an den falschen Kuchengabeln unzweifelhaft erkennen wird!

Erkenntnisse meiner künstlerischen Forschung zu „nutzhaften Dingen“

Wird die Zuweisung der Eigenschaft „nützlich“ nicht nur deshalb bemüht, um rational-logisch zu verschleiern, dass es sich dabei ebenfalls um solches „wildes Denken“ handelt? Machen Kuchengabeln, Wimpernbieger oder Kirschentkerner rational-logisch – in unserer aufklärerischen Tradition – tatsächlich in nützlich funktionaler Weise Sinn, oder sind sie nicht eher vergleichbar mit der rituell-mythischen Logik, die man gerne abfällig sogenannten „primitiven Völkern“ unterstellt?

Anmerkung vom mitdenkenden Ehemann – und hätte mir als alte Linke auch eigentlich selbst einfallen müssen: Das erzeugte und allzu oft fadenscheinige Nutzenversprechen der Dinge – vermutlich das meist strapazierte Versprechen in Marketingfloskeln – hat natürlich auch mit dem Kapitalismus zu tun und nicht nur mit der angemessenen Adaption von Mystik in einer Kultur der Aufklärung. Unternehmen wollen verkaufen und wenn alle schon die sinnvollen Dinge besitzen, muss man eben Gründe schaffen, sinnlose Dinge zu begehren.

Da wir schließlich in einer lockeren Kultur leben, in der jeder individuell nach seinem Gutdünken leben darf – jeder Jeck ist anders – ist es ein cleverer Schachzug, die kulturellen Normen zu verschleiern, indem man sie nicht als Normen ausgibt. Es ist ja nicht unhöflich, keine Kuchengabeln oder keinen Wimpernbieger zu besitzen, oder gar strafbar (man wird deshalb auch nicht gleich aus der kulturellen Gemeinschaft verstoßen), sondern man gilt – passend zu unserem vernunftbezogenen kulturellen Selbstverständnis – als rational unterbemittelt, wenn man diesen praktischen Nutzen von Kuchengabeln oder Kirschentkernern nicht erkennt. Man handelt weniger moralisch-sittlich unangemessen, sondern muss eher ziemlich dumm, oder noch in einer naiv rebellischen Entwicklungsphase stecken geblieben sein, wenn man so wenig Einsicht in die Nützlichkeit zeigt.

Schluss-Anmerkung vonseiten der Künstlerin: Das Kunstprojekt “Nutzhafte Dinge” läuft auf Kulturkritik hinaus und kritisiert Begebenheiten, mit denen ich eigentlich selbst mein Geld verdiene: scheinbar nützliche Dinge für Unternehmen erfinden, die dann begeistert von Konsumenten gekauft werden und Werbedesign dafür entwickeln. Man darf aber auch gerne drüber lachen. Meine Kunstwerke sind grundsätzlich mit einem humorvollen Augenzwinkern gedacht, nach dem Motto: Man sollte schon kritisch über die eigenen Lebensbedingungen, die eigene Kultur und das eigene Selbstverständnis nachdenken, aber darf es auch mit Humor nehmen. Wenn es unerträglich, also nicht mehr lustig wird, sollte man m.E. auch sein demokratisches Recht auf Protest nutzen (mach ich dann auch)! Die nutzhaften Dinge sind aber eine relativ harmlose Verwerflichkeit unserer Kultur (ungeachtet der Ressourcen, die durch die Produktion all dieser nutzhaften Dinge unnütz verbraucht werden: der Kunststoff, mit dem ich drucke, ist übrigens PLA, biologisch abbaubar, aber ob das als Rechtfertigung reicht?). Das scheinbar Harmlose interessiert mich besonders (und ich mag Franz Kafka). Es geht mir nicht darum, anzuklagen, bin ja selbst “Täter” (politisch korrekt: Täterin), aber eine Gewahrwerdung über die kulturellen Verhältnisse, in denen wir leben, schadet m.E. nicht!

Link zu den 3D-Druckdateien

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