No risc, no art

Auch, aber doch mehr als eine Rezension des Buchs: Georg W. Bertram, „Kunst als menschliche Praxis: Eine Ästhetik“

Lesezeit: 8 Minuten

Kunst braucht selbstverständlich kein Mensch. Diesen Satz macht aber vor allem der Begriff „braucht“ richtig, sofern wir darunter einen nützlichen Gebrauch verstehen. Ein Kunstwerk kann ich nicht essen, keinen Kaffee mit kochen, keinen Nagel mit in die Wand schlagen, mich nicht damit fortbewegen, keine digitale Nachricht versenden. Also eigentlich kann ich damit nichts tun, das für das tägliche Leben oder auch die Gestaltung des Fortschritts mithilfe von lebenserleichterndem Allerlei von Nutzen wäre.

Was sagt der Philosoph zum Nutzen der Kunst?

Man wird ja im Kunststudium auch immer wieder dazu inspiriert / angehalten / genötigt(?) sich mit Kunstphilosophie zu befassen (und immerhin hatte ich zwei Jahre Philosophie in der Schule und fand: es gab uninteressantere Fächer, ein paar). Das Reklam-Heftchen: „Der Ursprung des Kunstwerks“ vom Philosophen Martin Heidegger verstaubt seit Jahrzehnten (gefühlt seit Jahrhunderten) ungelesen in meinem Bücherregal. Aber immerhin existiert es in meinem Bücherregal, und das Sein des Seienden in meinem Regal sollte ihm doch genügen. „Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ von Walter Benjamin hab ich gelesen, aber frage mich bitte keiner, was drin stand. Kürzlich habe ich es wieder probiert: „Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis: Eine Ästhetik“. Davon abgesehen, dass Philosophen gerne mit konkreten Beispielen geizen und sich auch nicht auf empirische Studien stützen – in denen sie z.B. mit Kunstbetrachtern und/ oder Künstlern gesprochen und die Gespräche dann ausgewertet haben, sondern Philosophen eher gerne so im Abstrakten eigenen Gedanken nachfabulieren (Vorurteil?), hat mir das Buch sehr gut gefallen.

Kleiner Einschub: Als ich in der Schule genötigt wurde, Kant zu lesen, hab ich das die ersten Seiten noch ganz interessant gefunden. Er definierte einen Begriff, ich glaube es war der Begriff „Ethik“. So etwa ab Seite 20 dachte ich: Prima, hast du dir jetzt echt Mühe mit der Definition eines Begriffs gegeben, aber: komm doch mal zum Punkt, Emanuel, sag was du sagen willst, definiert ist jetzt genug! Bis zum Ende des Buchs ging es jedoch weiter ausschließlich um die Definition des Begriffs, es ging um nichts anderes. Und das erinnerte mich daran, warum ich bei „Winnetou 1“ – obwohl ein ehrfürchtiger Winnetou-Fan – nie über die ersten Seiten hinweg gekommen bin und es frustriert weggelegt habe: „Ein Greenhorn ist … ein Greenhorn ist … ein Greenhorn ist“.

Kant als Winnetou

Ein Kunstbetrachter ist … ein Kunstbetrachter ist … ein Künstler ist?

Im Mittelpunkt kunstphilosophischer Betrachtungen steht immer – jedenfalls nach meinen bisherigen Erfahrungen – der Kunstbetrachter, nicht etwa der Künstler. Letzterer ist eine Chimäre (ist natürlich Quatsch, wenn man bei Wiki nachliest, was eine Chimäre ist, aber klingt einfach gut). „Chimäre“ definiere ich einfach mal als Mischwesen zwischen „Irgendwie Mensch“, aber „Irgendwie doch so unergründlich anders, dass kein Philosoph sich damit in die Nesseln setzen möchte, den Künstler zu definieren, oder auch nur über das Sein seines Seienden zu fabulieren“. (Ich glaube, das „Unergründliche“ ist Quatsch, gehört aber vermutlich zum Künstler-Image und das möchte der Philosoph – netter Weise – dem Künstler nicht versauen. Der Psychologe, siehe z.B. Sigmund Freud, ist diesbezüglich weniger nett). Damit hat der Philosoph übrigens eine Parallele zum Finanzamt, denn die verlassen sich bei der Feststellung der Freiberuflichkeit eines Künstlers auch meist darauf, dass das Künstlersein irgendwie nachgewiesen ist. Was er dann konkret macht, der Künstler, wird dann wohl schon Kunst sein.

Bei Bertram lässt sich der Künstler aber zumindest in seiner Funktion erahnen und das Erahnte passt für mich.

Kleines Zitatestorming aus Bertrams Werk:

  • „Wertvoll sind Kunstwerke dadurch, dass sie Rezipierende herausfordern.“
  • „Die ästhetischen Werteigenschaften von Kunstwerken gehören dadurch zum Gefüge der Welt, dass sie Neuaushandlungen menschlicher Praktiken anstoßen.“
  • „Kunstwerke sind Gegenstände, mittels deren Menschen sich durch Aktivitäten, in denen sie unselbständig sind, selbst bestimmen.“
  • „Erst über Praktiken und Subjekte stellt sich dieser Zusammenhang her, und zwar dadurch, dass Subjekte in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken Impulse für die Entwicklung ihrer Selbstbestimmung suchen.“
  • „Die kritische Beurteilung macht verständlich, inwiefern Kunst als eine Praxis der Selbstbestimmung zu begreifen ist, nämlich als eine Praxis, deren Herausforderungen stets ihrerseits reflektiert werden.“
  • „Kunstwerke ringen um ihr Gelingen als Gegenstände, die für eine Auseinandersetzung wertvoll sind.“
  • „Jedes Kunstwerk läuft immer Gefahr, keine angemessene Herausforderung oder überhaupt keine Herausforderung menschlicher Praxis zu realisieren.“

Kunst verstehen – Kunstphilosophen verstehen?

Natürlich weiß ich nicht genau, was Bertram gemeint hat. Wer versteht schon Philosophen so genau? Aber eine hilfreiche, fruchtbare, euphorische Erkenntnis ist gar nicht darauf angewiesen, dass der Erkennende – in dem Fall ich als Leserin – es ganz genauso versteht, wie der Erkenntnisstiftende – der Autor Bertram – es gemeint hat. Wie viele tolle Ideen und weiterführende Gedanken sind entstanden, weil man den Vordenker einfach missverstanden hat? Man weiß es nicht, denn vermutlich würde es keiner zugeben. Nach meiner Meinung werden jedoch Missverständnisse als Motor neuer Impulse unterschätzt. Ich möchte hier nicht die Lanze für Fehlinterpretationen brechen, nicht dem Autor eine Interpretation unterstellen, die er so nie gemeint hat, aber dennoch mein eigenes – vielleicht völlig richtig verstandenes, vielleicht aber auch missverstandenes Erkennen – anführen.

Damit gehe ich mit dem Buch so um, wie Bertram es als – vom Künstler gewollten – Umgang des Kunstbetrachters mit dem Kunstwerk beschreibt. Es geht gar nicht darum, genau zu verstehen, was der Künstler gemeint hat. Der Künstler muss es selbst gar nicht so genau wissen, was er meint, denn wäre es etwas, das er einfach so in Worten erklären könnte, müsste er sich nicht die Mühe geben, sein – nennen wir es „Anliegen“ – umständlich in ein schwer verständliches Kunstwerk zu gießen. Der Künstler würde jedem einen Gefallen damit tun, weil Rätsel raten anstrengend und das Leben schon anstrengend genug ist. Er würde einfach frei heraus sagen, was ihm anliegt. Die Kunst kümmert sich aber gerade um die Dinge, die sich schwer so einfach sagen lassen, nicht weil sie so kompliziert sind, sondern weil sie nicht so eindeutig sind. Das Kunstwerk kann mir nur einen mehr oder weniger ansprechenden Anlass zu einer eigenen Erkenntnis geben. Es zwingt mir keine eindeutige Erkenntnis auf. Man kann ohne weiteres behaupten, dass die Kunst die einzige Disziplin ist, die sich um derlei von ihrem Wesen her uneindeutige Erkenntnisse kümmert. Nein, nicht ganz, auch die Religion tut das, aber mit einem anderen Anspruch, darauf komme ich noch zurück.  

(Kleiner Einschub: im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung erforschen Künstler auch Singularitäten, um deren Erforschung sich sonst auch kaum jemand kümmert, siehe dazu den m.E, lesenswerten Artikel von Dieter Mersch.)

Wer ist der Künstler, wenn er Herausforderer des Kunstbetrachters ist?

Ein „Herausforderer“ ist also der Künstler, schreibt Bertram und die Rolle als Herausforderin, die Bertram mir zuerkennt, gefällt mir. Möglich, dass Herausforderung aber nur ein Ideal von Kunst ist und am Ende das „Gefällige“, das den Betrachter in seiner Welt bestätigt, nicht herausfordert, sondern sich hübsch dekorativ über dem Sofa macht, viel mehr Einfluss besitzt. Sei es drum, bleiben wir beim Herausfordernden.

Zu was könnte denn Kunst – und hier sind alle Kunstformen gemeint, z.B. auch die Literatur, der Tanz, die Musik – herausfordern? Sie kann uns einen anderen Blick auf unseren Alltag, das Leben oder die Welt geben, uns auf etwas aufmerksam machen, das uns im gewohnten Alltag nicht gewahr wird, uns vielleicht einen Spiegel vorhalten – so wie es auch eine Karikatur oder ein Witz mit dem Mittel der Überspitzung tut. Irritation des Selbstverständlichen regt zum Innehalten und Nachdenken an. Es provoziert dazu, seine eigene Position zum jeweiligen Thema oder sein eigenes In-Der-Welt-Sein infrage zu stellen. Kunst kann uns aber auch einfach empathisch berühren, etwas erleben lassen, z.B. in einem literarischen Werk, das in einem reinen Sachtext kein Erlebnis ist und uns über das Miterleben zu einem besseren Verstehen bringen. Mit der Herausforderung, infrage zu stellen, fordert Kunst zur Freiheit der Selbstbestimmung heraus, denn gute Kunst gibt – wie schon weiter oben angemerkt – keine Antworten vor, sondern konfrontiert mit Fragwürdigem. Das unterscheidet sie maßgeblich von der Religion, denn diese verbreitet in der Regel Lehren und keine offenen Denkanstöße.

Ist „Herausforderer“ nicht zu hoch gegriffen?

Im Folgenden werde ich mir das selbstverständlich schön reden mit der Herausforderung der Kunst, in Anbetracht des Umstands (oder kann man von Tatsache sprechen?), dass die Herausforderung vieler Kunstwerke kein bisschen dazu veranlasst, die Welt zu verändern, zu einer besseren Welt zu machen, für Weltfrieden zu sorgen, den Hunger zu besiegen, oder den Klimawandel aufzuhalten. Bei meinen eigenen Kunstwerken handelt es sich eher um Alltagsbanalitäten, die hier herausgefordert werden. Ich beschäftige mich z.B. mit Wartemarkenziehern und anderen Automaten, Stehplätzen, nützlichen(?) Alltagsdingen wie Bananenschneidern, Kirschentkernern oder Wimpernbiegern, Papierknüllen und ähnlich belanglosen Dingen des Alltags (so geht Internet, immer schön querverlinken! … und die ganze Ladung gibt es hier). Ich frage bei Automaten, in welchem Verhältnis der Bediener eines Automaten zum Automaten steht, wer hier eigentlich wen bedient und was die Bedienung eines Wartemarkenziehers mit dem Bedienenden macht. Ich frage, was eigentlich nützliche Dinge sind und was es überhaupt mit der Eigenschaft „nützlich“ in unserer Kultur auf sich hat und welche Brisanz ein zerknülltes Papier hat.

Zur spaßigen Irritation scheint es den Betrachtern meiner Werke jedoch hörbar zu verhelfen. Sie lachen oft. Hans-Werner Meyer schreibt in seinem Artikel: Ein Leben ohne Kultur oder vom Nutzen der Kunst: „Der kürzeste Ausdruck von Kultur ist der Witz. Sein Sinn besteht darin, das Gegenüber zu überraschen und zum Lachen zu bringen. Bei einem guten Witz klafft unter der Pointe der Abgrund des Lebens, in den man kurz blickt …“. Auch ein Witz fordert also heraus. Wie weit ein Kunstwerk herausfordert und zu was überhaupt, ist eine andere Frage.

Freiheit zur Selbstbestimmung bedeutet gleichzeitig Unsicherheit, weil ein freier Mensch sich selbst entscheiden muss und selbst darüber nachdenken muss, warum er sich für etwas entscheidet und es dann auch selbst verantworten muss, was er selbst entschieden hat. Bertram schreibt: „Jedes Kunstwerk läuft immer Gefahr, keine angemessene Herausforderung oder überhaupt keine Herausforderung menschlicher Praxis zu realisieren“. Er redet also davon, dass der Versuch des Künstlers, herauszufordern, oft zum Scheitern verurteilt ist. Die Herausforderung „Keiner versteht mich, schluchz“ zu riskieren, liegt dann auf der Seite des Künstlers. Der Künstler geht hier also ein Wagnis ein und riskiert bei jedem Versuch eines Kunstwerks die Schmach des Nicht-Gelingens, weil nicht Verstandenwerdens (und Kunstkritiker schmähen von Berufs wegen). NO RISC, NO ART!

Als Betrachter kann ich das Kunstwerk einfach unverständlich finden und mich abwenden, es nicht an mich heranlassen und damit der Gefahr jeglicher Irritation und Herausforderung vorsorglich entgegenwirken. Es ist eben nur ein Angebot des Künstlers: Nimm es an oder schlendere halt vorbei zum nächsten „Macht sich hübsch dekorativ über dem Sofa“. Und ja, auch diese Freiheit hat der Kunstbetrachter: Einfach etwas gut zu finden, weil es hübsch ist über dem Sofa oder dem Managerschreibtisch. Auch das gehört zur Selbstbestimmung, und ich gebe mir immerhin Mühe, die Irritation auch noch so hübsch zu machen wie möglich. Das machen nicht alle Künstler so. Wenn sich z.B. Pjotr Pawlenski in einer Kunstaktion selbst den Mund zunäht, ist „hübsch“ nicht mehr der passende Ausdruck. „Hübsch“ kann aber ein Trick sein, den Betrachter in eine Herausforderung einzuwickeln.

Kunst ist wertvoll

Das Buch von Bertram möchte ich hier ausdrücklich – trotz weniger Beispiele und keinerlei Studien – empfehlen, vor allem für andere Künstler, die nie Heidegger gelesen haben, weil sie sich schon auf den ersten Seiten gefragt haben, warum sie denn unbedingt wissen müssen, was ein Greenhorn ist. Bertram positioniert ebenfalls – wie die meisten anderen Philosophen, die sich mit Kunst beschäftigt haben – den Betrachter in den Vordergrund seiner Betrachtung. Übrigens leistet sein Buch es auch, einige wichtige Kollegen aus der Historie der philosophischen Kunstbetrachtung kurz und verständlich zusammenzufassen, was die Originallektüre von Kant, Danto und wie sie alle heißen, spart. Zwar hat auch Bertram es nicht gewagt, die Chimäre des Künstlers zu ergründen. Liest man das Buch jedoch als Künstler, so fordert es die Selbstbestimmung als Künstler heraus.

Welchen Sinn macht das eigentlich, was ich als Künstlerin mache? Hab ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen? „Wertvoll sind Kunstwerke dadurch, dass sie Rezipierende herausfordern“, dadurch dass sie sich mit dem Unsagbaren befassen, mit dem sich sonst keine andere Disziplin (offen und nicht als „Lehre“) befasst, und dadurch, dass sich Künstler dabei vorbildhaft als Meister des Scheiterns entblößen. Im Gegensatz zum Philosophen muss der Künstler es im Kunstwerk auf den Punkt bringen, die Geschichte auserzählen und nicht nur etwas definieren. Kunst  provoziert die Selbstbestimmung des Rezipienten und ist damit eine Praxis von Freiheit. Was braucht man dringender, wenn man schon satt ist, eine Kaffeemaschine, einen Hammer und das neuste Smartphone schon hat?

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